Kapitel 2: Der Lord von Meereshorn

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  Da standen wir nun, die siebenköpfige Familie Braiden, aufgereiht wie Hühner auf der Stange, und unsere gesamte Gefolgschaft hinter uns. Alles war komplett still und jeder lauschte auf den lauter werdenden Klang von vielen Hufpaaren auf der gefrorenen Erde. Jeder, außer mir, denn über das Rauschen meines Blutes hinweg konnte ich kaum etwas hören.
Unsere Aufstellung war etwas anders als sonst. Normalerweise stand mein Vater, Lord Ragnar Braiden von Schneewacht, ganz links. Rechts von ihm meine Mutter mit meinem kleinen Bruder Arley, der noch ein Säugling war, auf dem Arm, und dann wir anderen Kinder, dem Alter nach geordnet Arlisar, Arjon, ich und Arden. Heute bestand die Abweichung darin, dass ich als einzige links neben meinem Vater stand. Trotz ihm und dem Gardisten neben mir fühlte ich mich irgendwie ungeschützt, konnte ich mich doch sonst zwischen meinen Brüdern verkriechen.
"Du siehst wunderschön aus, mein kleiner Stern", flüsterte mir mein Vater zu und lächelte mich an, sodass sich viele kleine Fältchen um seine Augen auftaten. Ich gab mein Bestes und lächelte zurück, was er scheinbar als Aufforderung nahm, weiter zureden.
"Lord Thymeris ist ein stolzer und ehrbarer Mann. Er wird dir anfangs vielleicht etwas ernst erscheinen, aber ich bin mir sicher, wenn du ihn näher kennen lernst, wirst du ihn mögen." Er nahm meine Hand und drückte sie. Ich behaupte nicht, dass ich vieles von dem, was er in jenem Moment zu mir sagte, behalten habe, aber seine Hand zu halten, beruhigte mich etwas. Ich fühlte mich nicht mehr ganz so allein gelassen.
In diesem Augenblick kamen die ersten Reiter durch das Tor galoppiert. Soldaten in voller Rüstung und mit Standarten, welche das Wappen der Lordschaft von Meereshorn trugen, eine Wassernixe auf dunkelrotem Grund.
Der Vorhut folgte ein einzelner Mann auf einem großen braunen Pferd, knapp hinter ihm erneut zwei Reiter in Rüstung, aber ohne Standarten und Helme.
Der Mann war in robustes, dunkles Leder gekleidet mit einem schwarzen Umhang. Um seine breiten Schultern war ein grau-weißes Fell gelegt, wahrscheinlich das eines Wolfes.
Die ersten Soldaten ritten tief auf den Hof und spalteten sich dann auf, um sich am Rand des Platzes zu postieren, nur der Reiter in Leder hielt auf uns zu und bremste sein Pferd ab, dass es circa zehn Meter vor uns zum Stehen kam. Elegant und schwungvoll stieg er aus dem Sattel und ging zügigen Schrittes auf meinen Vater zu. "Lord Braiden." Seine Stimme war tief und klangvoll. Leicht neigte er den Kopf vor dem Lord von Schneewacht, welcher es ihm gleich tat. "Lord Thymeris." Dann breitete Vater die Arme aus, umarmte den Lord des Südens und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Der Lord zog die Mundwinkel hoch und wandte sich meiner Mutter zu.
Ich sage mit Absicht 'zog die Mundwinkel hoch', denn ein Lächeln war es nicht wirklich. Seine Augen blieben unberührt.
"Lady Braiden." Er küsste sittlich die Hand, die sie ihm hinhielt.
"Willkommen auf Feste Schneewacht, Mylord. Ich hoffe Ihr hattet eine nicht allzu anstrengende Reise."
"Es war recht annehmlich, nur die Kälte des Nordens ist mir und meinen Männern nicht vertraut."
"In der Burg brennen viele Feuer, an denen Ihr Euch wärmen könnt."
Er neigte den Kopf. "Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft."
"Lord Thymeris, darf ich Euch meine Tochter, Lady Aree, vorstellen."
Vater deutete breit lächelnd und sichtlich mit Stolz erfüllt auf mich, doch ich kam mir gerade nur vor wie ein mickriges Häufchen Mensch.
Dunkle, mit langen Wimpern umrahmte Augen richteten sich auf mich. Obwohl ich auf einer Stufe stand, überragte er mich noch, sodass ich hochgucken musste. Zwei Strähnen seiner zerzausten, lockigen Haare hingen in seine Augen. Durch seine ungeordneten Haare und durch sein unrasiertes Gesicht hatte er irgendwie etwas Wildes an sich, etwas, das auch der Unterton in seinem Blick widerspiegelte.
Es kam mir vor, als würde er mich eine Ewigkeit lang einfach nur anstarren und am liebsten hätte ich mich unter seinem Blick gewunden, aber ich stand still, bis dieser eigentlich nur kurze Moment vorüber war und er meine zierliche Hand in seine große, raue nahm und einen Kuss darauf hauchte. Eigentlich berührte er sie gar nicht.
"Lady Aree, es freut mich Euch wieder zu sehen." Das dunkle Braun sah mir direkt in die Augen. Ich senkte – unsittlicherweise - den Blick und heftete ihn stattdessen unbewusst auf unsere immer noch ineinander verhakten Finger. "Die Freude ist ganz meinerseits, Mylord."
Er schien meinen Blick falsch zu deuten und zog eilig seine Hand weg. Glücklicherweise unterbrach Vater diesen - für mich - etwas peinlichen Moment.
"Ich sehe Eure Gefolgschaft ist eingetroffen, Lord Thymeris. Kommt doch herein, erholt Euch etwas von der Reise und speist nachher mit uns."
Damit wandte sich der Lord von mir ab und trat mit meinem Vater in unsere große Empfangshalle ein, die extra für diesen Anlass zum Speisesaal umgebaut wurde.
Mutter hakte sich bei mir unter. "Sehr gut gemacht, mein Schatz", flüsterte sie mir zu und zog mich mit hinein. Ich war gar nicht so von meiner Heldentat überzeugt. Die anderen schienen meine Ungeschicklichkeit nicht bemerkt zu haben, dafür aber Lord Thymeris.  

~

Später am Abend saßen alle gemeinsam in der großen Halle. Das Essen wurde bereits serviert und der Lärmpegel hielt sich in den oberen Rängen, da die Gefolgsleute von Lord Thymeris von sehr guter Laune befallen waren. Nur der Lord fehlte noch, der Platz zwischen mir und Vater war frei.

Links von mir saß Cathleen, die Tochter eines Zimmermädchens, meine einzige Freundin. Sie war zwar nicht von adeligem Geblüt, dennoch waren wir irgendwie zusammen aufgewachsen. Ich hatte mir gewünscht, dass sie bei mir saß, weil ich mir von ihr etwas Unterstützung erhoffte. Vater war zwar erst skeptisch, wahrscheinlich fürchtete er, Lord Thymeris könnte es missfallen mit einer Bürgerlichen zu speisen, aber dann stimmte er doch zu.
"Ich kann ja verstehen, dass du nicht von zuhause weg willst", nuschelte Cathleen kauend, "Und Hölle, ich werde dich so vermissen, aber denk doch mal positiv. Er ist jung, stark, gutaussehend." Sie wackelte mit den Augenbrauen. „Und hat sehr viel Geld und Macht."
"Ich finde, er hat etwas Wildes an sich", murmelte ich und starrte auf meinen unbenutzten Teller. Der Gedanke, dass ich morgen aus Schneewacht fort musste und das, bis auf ein paar Besuche, für immer, zerriss mich innerlich.

"Vielleicht ist das das südländische Temperament." Sie zwinkerte. Doch dann sah sie meinen Blick und das Lächeln verging ihr. "Oh nein. Bitte, schau nicht so."
Sie legte ihre Hand auf meine und streichelte sie.
"Ach, Cathy, ich will nicht fort. Ich kenne diesen Mann nicht und dann soll ich ihm bis ans andere Ende des Königreiches folgen? Seine Frau werden? Seine Kinder austragen? Ich weiß nicht, ob ich das kann."

"Aree, ich wünschte, ich könnte mit dir kommen, dir beistehen. Aber-" Sie stockte mitten im Satz und starrte auf etwas hinter mir. Da hörte ich auch schon meinen Vater.
"Lord Thymeris! Setzt Euch, esst etwas, genießt die Gesellschaft."
Ich hörte wie neben mir der Stuhl auf dem Steinboden kratzte und sich jemand setzte.

"Bitte verzeiht meine Verspätung."

Ich merkte, dass diese Worte an mich gerichtet waren. Kurz schielte ich zu Cathleen, die ihn mit großen Augen anstarrte, dann richtete ich meinem Blick zurückhaltend auf ihn.

Er hatte sich rasiert und seine Haare gemacht. Die braunen Locken hingen nun nicht mehr in sein Gesicht, sondern waren ordentlich zurückgestrichen und auch aus seinen Augen war der wilde Ausdruck verschwunden.

"Es gibt nichts zu verzeihen, Mylord. Ihr habt eine lange Reise hinter Euch."

"Esst etwas, Lord Thymeris, Ihr müsst doch hungrig sein."

Vater und der Lord vertieften sich in den nächsten Stunden in ein Gespräch. Aufgrund der Lautstärke verstand ich kaum etwas, aber ich wusste, dass es auch kurz um mich ging.

Ich unterhielt mich mit Cathleen, doch es gab auch Zeiträume, in denen wir nicht sprachen. Ab und zu ertappte ich mich dabei, wie ich Lord Thymeris von der Seite beobachtete.
Cathleen hatte schon recht, er war recht ansehnlich. Er hatte einen markanten, männlichen Kiefer, eine gerade Nase und auch generell ein hübsches Gesicht. Aber dass ich diesen Mann bald heiraten sollte, das Bett mit ihm teilen sollte und das voraussichtlich für den Rest meines Lebens, das konnte ich mir nicht vorstellen.

Einmal erwischte er mich, als ich ihn beobachtete. Ich wollte beschämt den Blick senken, aber er hielt ihn mit seinem aufrecht. Ganz leicht zuckten seine Mundwinkel nach oben. Automatisch erwiderte ich das 'Lächeln'. Ich wollte mich gerade von ihm abwenden, da begann er zu sprechen.

"Lady Aree, ob ich Euch wohl für einen Augenblick sprechen könnte? Es ist nichts dringliches", fügte er schnell hinzu, als er meinen wahrscheinlich schockierten Blick sah. "Ich wollte mich nur etwas mit Euch unterhalten, bisher hatten wir nicht die Gelegenheit dazu."
"Ehm, ja, ich... Ich denke schon, dass das geht."

Er nickte und sah sich kurz um. "Ob wir wohl raus gehen könnten? Es ist etwas laut hier."
"Natürlich."
Wieder nickte er und stand auf, um mir den Stuhl zurück zu ziehen. Brav legte ich meine Hand an den Arm, den er mir hinhielt. Ein letztes Mal sah ich zu Cathleen, die mir aufmunternd zu lächelte, dann ließ ich mich von ihm wegführen.

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