Kapitel 61: Stille

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Ich hatte es mir immer anders vorgestellt, dem Tod ins Auge zu blicken.
Meine Hoffnung war es immer im hohen Alter einfach friedlich einzuschlafen, zwischen Leuten, die ich liebte. In einem warmen Bett, vor dem prasselnden Kamin in Schneewacht.
Niemals hatte ich mir das hier ausgemalt. Ein kalter, steinerner Saal in dem man fast seinen Atem in der Luft sehen konnte. Ein eisiges Messer an meinem Brustkorb, geführt von jemandem, der immer ein Wärmepol in meinem Leben gewesen war.
Die glitzernde Träne auf seiner blassen Wange war das letzte, das ich sah. Langsam schloss ich die Augen und atmete noch einmal ein.
Sein Geruch hatte noch immer dieselbe beruhigende Wirkung auf mich. Trotz allem.
Ich ließ meine Arme unbewusst hinabsinken, hielt sie nicht länger in einer verteidigenden Haltung.
Wenn das hier das Ende ist.
In einem letzten Hauch ließ ich die Luft aus meinen Lungen.
Dann ist es... Stille.
Der kalte Stahl durchtrennte mein Kleid ohne jegliches Geräusch.
Ruhe.
Ein kurz aufbrennender Schmerz, als er in meine Haut schnitt. Und danach...

Nichts.

Sein Griff lockerte sich, seine Hand rutschte langsam an meinem Arm hinab.
Einen Moment zögerte ich, dann öffnete ich vorsichtig die Augen.
Sein Gesicht war bleich in dem Dämmerlicht, schien fast ganz weiß.
Lange starrte er mich an.
Dann wurde sein Blick glasig.
Mit einem würgenden Geräusch sprudelte Blut zwischen seinen Lippen hindurch und rann sein Kinn hinab.
Er begann zu zittern und sackte schließlich zu Boden, mit einem dumpfen Geräusch schlug sein Körper auf. Begleitet wurde es von dem metallischen Klirren, als das Schwert, das ihn durchbohrt hatte, den steinernen Grund berührte.
Ich bewegte mich nicht, konnte mich nicht bewegen. Noch immer starrte ich paralysiert auf die Stelle, auf der bis eben noch Arlisars Gesicht war.
Stattdessen sah ich jetzt in hellblaue Augen, so wie ich sie hatte.
Seine hellblonden Strähnen klebten ihm verschwitzt in der Stirn, sein Brustkorb bebte.
Die Hände, mit denen er gerade noch das Schwert geführt hatte, hielt er zitternd und verkrampft vor seinen Körper.
Schock und Angst spielten in seinem Blick mit, während er mich anstarrte.
„Ich... ich hatte keine Wahl...", flüsterte er.
Dann begann er zu weinen.

~

Uns fand ein Bediensteter. Er kam durch die kleine Seitentür, durch die auch ich hereingekommen war, als Edar Rynon tot aufgefunden wurde. Arlisar musste sie vergessen haben, als er die große Eingangstür verschlossen hatte.
Ich konnte mir nur vage vorstellen, welches Bild sich ihm bot und wie es auf ihn wirken musste.
Arjon hockte zusammengekrümmt und leise wimmernd an einer Säule, die Hände in den Haaren vergraben.
In der Mitte des Saales lag der leblose Körper von Arlisar, in einer Lache aus Blut und mit einem Schwert durch die Brust.
Und dahinter stand ich. Noch immer unberührt und in Richtung der Tür starrend.
Ich musste eine Wunde am Bauch haben, aber ich spürte keinen Schmerz. Alles was ich spürte war die Leere in meinem Brustkorb. Die Unfähigkeit irgendetwas zu realisieren oder zu begreifen. Ein seltsames Drehen in meinem Kopf.
Der Saum meines Kleides musste mittlerweile von Blut getränkt sein.
Der junge Mann starrte mich an, die Augen weit aufgerissen.
Dann ließ er die Kerze, die er in der Hand hielt - vermutlich zum Entzünden der Kandelaber und Kronleuchter in diesem Trakt - fallen, drehte sich auf dem Absatz um und rannte in den Gang.
Er schrie etwas, doch die Worte konnte ich nicht mehr verstehen, denn das Rauschen in meinen Ohren gewann Überhand und mir wurde schwarz vor Augen.

~

Das erste was ich wahrnahm, war eine Berührung, ein leichter Druck an meinem Mundwinkel, dann etwas Nasses, das auf meine Wange tropfte. Mein Kopf fühlte sich betäubt an. Wo war ich?Jemand war über mir, das merkte ich. Eine vertraute Stimme, die mir sanft ins Ohr flüsterte.
Als nächstes fuhr ein scharfer Schmerz durch meinen Bauch, vertrieb mit einem Mal die Taubheit aus meinem Körper und ließ mich die Augen aufreißen.
Ich sah sein Gesicht kopfüber, offensichtlich hatte er meinen Oberkörper auf seinen Beinen gebettet. Erst lag Überraschung in seinem Blick, dann machte sich Erleichterung breit. Seine dunklen Augen glänzten und eine leicht glitzernde Tränenspur zog sich über seine Wange.
Er weinte...
„Aree...", flüsterte er zärtlich und strich mir einmal über die Stirn.
Ein warmes Gefühl machte sich in meiner Brust breit. Sein Anblick, seine Stimme gaben mir ein Gefühl der Sicherheit.
Noch immer waren wir hier, in dem kalten Saal, nur hatte man jetzt mehrere Fackeln entzündet und viele Wachen und Bedienstete liefen durch die Gegend.
Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Ich starrte direkt auf ein weißes Leinentuch, stellenweise und an den Rändern vollgesogen mit Blut. Das Tuch wölbte sich über einem reglosen Körper.
Arlisar...
Man hatte ihn auf den Rücken gedreht und das Schwert aus seiner Brust gezogen.
Sechs Priester hatten sich um ihn herum verteilt, jeder eine Kerze in der Hand, und ließen einen monotonen Trauergesang verlauten.
Er war tot.
Wahrhaftig und endgültig.
Mein Hals schnürte sich zu und meine Augen begannen zu brennen.
„Wo ist Arjon?", fragte ich mit heiserer Stimme, nachdem ich verzweifelt den Saal nach ihm abgesucht hatte.
„Sssh, mach dir keine Sorgen", antwortete Rajan leise und zog die Mundwinkel zu einem kläglichen Lächeln hoch. „Die Wachen haben ihn festgenommen. Er kann dir nichts mehr tun."
„Was?", schockiert sah ich zu ihm hoch. „Nein! Nein, hol ihn zurück!"
„Wie... ich verstehe nicht..." Er runzelte verwirrt die Stirn.
„Er hat nichts getan!"
„Aber deine Wunde... und Arlisar..." Er sah zu der bedeckten Leiche meine Bruders.
Ich versuchte mich aufzurichten, doch er drückte mich an den Schultern wieder herab.
„Nicht, Liebes, du hast zu viel Blut verloren!"
„Ich weiß, es ist in Anbetracht der Lage schwer es von Euch zu verlangen, aber Ihr solltet ruhig bleiben, Mylady." Erst jetzt bemerkte ich Meister Aureus, der zu meinen Füßen saß. Scheinbar hatte er den Schnitt an meinem Bauch versorgt. „Wir können von Glück reden, dass die Klinge nicht tief genug ging, um Organe zu verletzen."
Ich hörte was, sie sagten, doch es war mir egal. Aufgewühlt umfasste ich Rajans Handgelenke.„Arjon hat mir das Leben gerettet, Rajan! Es war Arlisar!"
„Arlisar?", wiederholte er völlig irritiert.
„Ja! Als ich sie unter der Kathedrale gesehen habe, dachte ich auch erst es sei Arjon! Doch es war Arlisar! Er gab vor mir helfen zu wollen und führte mich dann hier her. Und dann wollte er... er wollte..."
Bei der Erinnerung daran, wie Arlisar mich festhielt und das Langmesser zog, wurde mir augenblicklich eiskalt. Mein Bruder...
„Arlisar wollte dich umbringen...?", hakte Rajan vorsichtig nach und strich mir eine Strähne aus der Stirn.
Ich brachte nur ein Nicken zustande.
"Aber... er hockte über dir, deine Wunde... und Arlisar war tot! Es sah alles so aus, als ob..."
"Es war Arlisar...", wiederholte ich flüsternd, dann brachen die Tränen wieder aus. Und dieses Mal ließ ich los.
Das schwere Schluchzen verursachte ein heftiges Ziehen in meinem Bauch, doch ich konnte es nicht stoppen. Das erste Mal seit sehr langer Zeit ließ ich wieder los.
Am Rande nahm ich noch wahr, wie Rajan jemandem etwas zurief. Dann schlang er die Arme um mich und hielt mich einfach.

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