Mein Gehirn setzte aus

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„Alex?", hörte ich da eine Stimme. Ich verdrehte die Augen. Natürlich musste ER vorbeikommen, wenn ich hier einen Nervenzusammenbruch hatte. Es war ein kosmischer Witz, wenn man mich fragte, aber das tat ja niemand. „Nein.", murmelte ich und hoffte dass er weggehen würde. Tat er natürlich nicht. „Alles in Ordnung?", fragte er und ließ sich neben mir nieder. „JA! Sieht man das denn nicht?!", fuhr ich ihn an. „Wenn ich ehrlich bin, hast du schon besser ausgesehen.", erwiderte er und wollte offensichtlich witzig sein. Der Blick den ich ihm zuwarf, ließ das leichte Lächeln auf seinem Gesicht gefrieren. „Verdammt, du siehst ja richtig schlimm aus. Was ist passiert?", entfuhr es ihm. Seine grün-braunen Augen waren schockiert aufgerissen und ich konnte das Mitleid darin sehen. Und in diesem Moment, brach alles zusammen. Die Schutzmauer die ich aufgebaut hatte, die Abwehrhaltung die ich ihm gegenüber niemals ganz aufgegeben hatte, einfach alles.

„Ich habe mit ihm Schluss gemacht.", schluchzte ich los. „Mit Mitch?" „Nein, mit Finn. NATÜRLICH mit Mitch. Mann Marco, benutz doch das Ding in deinem Kopf mal.", rief ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Er blieb still, schließlich kannte er mich mittlerweile gut genug um zu wissen, dass ich alles erzählen würde, was ich erzählen wollte. Dennoch strich er mir sanft über den Rücken, als mein Körper das nächste Mal von einem Schluchzer geschüttelt wurde. Immer wieder kamen mir die Tränen und ich schnappte nach Luft, aber trotzdem schaffte ich es ihm die ganze Geschichte zu erzählen. „Weißt du, als er mir eine Affäre mit dir unterstellt hat, ist eben alles wieder hochgekommen und im Gegensatz zu damals bei dir zuhause, war ich eben heute nicht fähig den Schmerz wieder zu vergraben. Ich kann nicht mehr...", meine Stimme brach beim letzten Satz.

Marcos Hand die mir während meiner Erzählung immer über den Rücken gestrichen hatte, verkrampfte sich. „Als das alles passiert ist vor 6 Jahren, konnte ich nicht mehr zuhause bleiben. Also bin ich nach Amerika abgehaut. Irgendwie habe ich mir immer die Schuld daran gegeben... Wenn ich damals zuhause geblieben wäre, dann hätte ich etwas tun können...", murmelte ich und konnte die Erinnerung daran beinahe nicht ertragen. „Erzähl mir davon. Ich verspreche, es niemandem zu verraten, aber du solltest darüber sprechen und wenn du das schon nicht mit deiner Familie kannst, dann vielleicht mit mir, ich habe genug Abstand dazu...", meinte Marco und seine sanfte, beruhigende Stimme gab den Ausschlag dazu, dass ich mich überwand ihm die Geschichte meines Bruders zu erzählen.

„Dani war immer gut drauf. Er war abenteuerlustig, hat alles ausprobiert, Papa ist sogar mal mit ihm Bungee-Jumpen gegangen. Gerade wegen seiner Euphorie die er bei jedem Ereignis hatte, beneidete ich ihn, da ich eigentlich immer die Vorsichtige war. Klar ich habe eine große Klappe, aber die Dinge die er gemacht hat, hätte ich mich nie getraut. Wir waren mal skaten, weil er sich unbedingt einbildete, dass ich lernen musste wie man Skateboard fährt. Das Ganze endete damit dass ich mit 2 km/h gegen eine Straßenlaterne gefahren bin, aber wir hatte so viel Spaß. Wir hatten immer Spaß. Aber als er älter wurde, wurde er immer nachdenklicher, trauriger, manchmal sogar aggressiv. Zuerst dachten wir, er hätte nur eine extreme Phase der Pubertät vor sich, aber nach einer Weile wollten meine Eltern sich das Debakel nicht mehr länger ansehen. Sie schickten ihn zu einem Psychologen, der Depressionen diagnostizierte und ihm Tabletten verschrieb, zusätzlich zu den unzähligen Sitzungen die die Beiden hatten. Eine Weile ging es ihm wieder gut, er war beinahe so euphorisch wie früher, fand sogar eine Freundin... Du hättest die Beiden sehen sollen, sie waren so verliebt, es war beinahe eklig den beiden zuzusehen. Bis er eines Tages nach Hause kam und erzählte sie hätten sich getrennt. Er war bei ihr zuhause, hat dort auf sie gewartet und auf ihrem Laptop ein Foto von ihr und einem anderen Typ gesehen. Sie hatte ihn betrogen... Dani fiel wieder in eine Depression, obwohl er die Tabletten nahm, zumindest konnte er uns diesen Umstand sehr gut weismachen. Sein Psychologe war nicht besorgt, weil wir alle dachten, dass er die Tabletten nehmen würde und er ja auch zu den Sitzungen ging um das Ganze zu verarbeiten. Also gingen meine Eltern eines Abends in die Oper und ich mit meinen Freundinnen feiern. Ich wollte dann bei einer von ihnen übernachten. Luke und Ben waren damals schon ausgezogen, also war Dani alleine zuhause. Wir dachten es ginge ihm bereits besser, denn ein paar Tage zuvor war er mit mir ins Kino gegangen... aber es ging ihm nicht besser... Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, stand dort ein Rettungswagen. Die Ärzte taten alles, aber es war zu spät. Die Mutter seiner Exfreundin hatte den Medizinschrank offen gelassen, als er zu Besuch war und dort hatte er sich ihre alten Schmerztabletten herausgenommen, sie war irgendwann an den Bandscheiben operiert worden, wenn ich mich richtig erinnere. Es waren wohl noch genug Tabletten darin, vor allem, weil er sie mit Alkohol genommen hatte. Wir wissen bis heute noch nicht woher er die Vodkaflasche hatte, aber die Polizei vermutete dass er jemand Älteres dafür bezahlt hatte, sie ihm zu kaufen. Wir hatten nachdem es passiert ist noch viele Gespräche, mit Ärzten, Psychologen, Polizisten... Bei diesen Gesprächen wurde irgendwann die Vermutung geäußert, dass mein Bruder bipolar gewesen war. Die meisten Psychologen erkennen eine bipolare Störung viel zu spät, es ist sehr schwer sie zu diagnostizieren, vorallem weil Dani erst 15 war. Seinen Suizid erklärten sie mit dieser Störung. Sie erzählten uns, dass viele Leute, die eine bipolare Störung haben, sich das Leben nehmen, aber ich konnte nie aufhören mich zu fragen, ob ich ihn davon abhalten hätte können, wenn ich an diesem Abend zuhause geblieben wäre..."

Marco blieb still, was ich verstehen konnte, schließlich war das recht viel zu verarbeiten. „Ich denke nicht dass es etwas geändert hätte. Wenn man es wirklich darauf anlegt, dann findet man auch einen Weg...", flüsterte er und nahm mich dann plötzlich in den Arm. Die Wärme dieser Umarmung half mir dabei, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. „Aber, wenn ...", fing ich erneut an, doch er unterbrach mich, „Shhhh... Du hättest nichts tun können. Es ist normal mit 18 feiern gehen zu wollen... Außerdem gab es keine Anhaltspunkte, dass er so weit gehen würde... Du KONNTEST es nicht vorhersehen, lass es also nicht deine Zukunft beeinträchtigen. Es war nicht deine Schuld..." Verzweifelt klammerte ich mich an ihn und versuchte dieses Gefühl der Geborgenheit an erste Stelle zu schieben, vor die Trauer. Wie lange wir so dasaßen wusste ich nicht, aber nach einer Weile konnte ich meine Schluchzer unterdrücken und auch meine Tränen versiegten. Zum ersten Mal nach 6 Jahren hatte ich darüber gesprochen und zum ersten Mal fühlte ich mich nicht innerlich zerrissen. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber Marco hatte wohl großen Anteil daran. Er war zum richtigen Moment gekommen und hatte auch genauso gehandelt wie ich es gebraucht hatte. Niemals würde ich es zugeben, aber die Umarmung in der wir hier saßen, gab mir Kraft. Sie gab mir eine Stärke, die ich so noch nie empfunden hatte... Als wäre nichts in dieser Welt unmöglich.

Ich atmete ein paar Mal tief durch, Marcos Parfum schmeichelte meinem Geruchssinn, weshalb ich noch einmal tief einatmete und mich dann langsam von ihm löste. Eigentlich bewegte ich den Kopf nur etwas nach hinten um mich bei ihm zu bedanken, aber sobald mich der Blick aus seinen Augen traf, entfielen mir alle Wörter die ich jemals gelernt hatte. Dieser Blick... Ich konnte die ehrliche Trauer die er empfand darin sehen. Nur mit seinem Blick konnte er mir ehrlicheres Mitgefühl schenken, als alle meine damaligen Freunde zusammen. Plötzlich wurde mir wieder seine Nähe bewusst. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und ich konnte jede kleine Lachfalte in seinem Gesicht erkennen, ebenso wie den braunen Ring in seinen grünen Augen. Erneut faszinierte mich dass das Braun in Richtung seiner Pupille immer heller wurde, bis es beinahe bernsteinfarben war. Mein Gehirn setzte aus, anders konnte ich mir nicht erklären warum ich das tat, was ich als nächstes tat.

Seine Wärme und die Geborgenheit die er mir gab übermannte mich und ohne darüber nachzudenken, lehnte ich mich nach vorne um die letzten Zentimeter zwischen uns zu überbrücken. Seine Lippen waren weich, viel weicher als ich erwartet hatte und es dauerte einen kurzen Moment, bis er den Kuss erwiderte. Bestimmt war er ebenso überrascht von meiner Aktion wie ich. Meine Hände zitterten leicht, als ich sie in seinen Haaren vergrub und ihn näher zu mir zog, was ihn offensichtlich nicht störte, wenn man seine Reaktion bedachte, die daraus bestand eine Hand an meine Wange zu legen und mit der anderen meinen Rücken hinab zu streichen. Ich genoss den Kuss, bis Marco sich plötzlich von mir löste und murmelte, „Das geht nicht. Ich... Wir... Das ist falsch." Meine Atmung ging stoßweise, doch sein Kommentar und vor allem dass er mich an den Schultern von sich wegdrückte, ließen mich wieder in der Realität ankommen. Mit feuerroten Wangen und brennenden Ohren starrte ich ihn an. Fassungslos griff ich an meine Lippen, als wären sie die Übeltäter gewesen die mich dazu gezwungen hatten. „Oh Gott, es tut mir so leid... Ich weiß auch nicht was in mich gefahren ist...", flüsterte ich und konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Es war mir so peinlich, dass ich mich gerade bei ihm zu dieser Aktion hatte hinreißen lassen, dass ich meine Krücken schnappte und loshumpelte.

Hallo ihr Lieben! 🤗
Schon wieder ist ein Dienstag da und auch ein neues Kapitel! Wie immer vielen lieben Dank für den Kommi und die Votes, ich freue mich immer extrem darüber! 💛😘💛😘💛
Hoffentlich hat euch das heutige Kapitel gefallen, auch wenn es doch recht ernst war... Ausser vielleicht das Ende, das für einige von euch vermutlich recht überraschend war?🤔🤔
Eure Skat💛😘

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