Kapitel 11: Verlassen

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Sie stürzt zu Boden. Vor meinen Augen dreht sich alles. Auf einmal wird mir klar, was ich gerade gemacht habe. Entsetzt und schockiert über mich selbst taumele ich einige Schritte zurück. Was habe ich getan? Izzie rappelt sich langsam wieder auf. Erneut sehe ich zu, wie sich die kleine Falte auf ihrer Stirn bildet. Als sie mich nun anschaut, wirkt sie nicht wütend, ihre Augen sind mitleidig. Sie packt mich am Arm und zieht mich in den nächsten Raum. Dieses Mal ist sie es, die ein Gespräch verlangt. 

Sofort nachdem sie die Tür hinter uns geschlossen hat, fange ich an zu reden, bevor sie damit beginnen kann. Zwischen den Tränen und Schluchzern Worte hervorzubringen ist nicht einfach. "Es tut mir so Leid, ich wollte das nicht!" Immer noch entsetzt strecke ich meine Hand nach ihrer Wange aus, die langsam blau wird. Kurz bevor meine Hand die Verletzung berührt, lasse ich sie wieder sinken. Ich will sie jetzt nicht anfassen. Sie schüttelt den Kopf. "Du hattest ein gutes Recht darauf, mich zu hassen. Ich habe mich verhalten, wie ein Arschloch. Deswegen sollte es mir Leid tun." Als sie sieht, dass ich nichts erwidere, fährt sie fort. "Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Ich hätte mit dir sprechen müssen, nachdem es passiert ist. Und ich hätte kein Gedicht darüber vor der Klasse vortragen sollen. Für das alles möchte ich mich entschuldigen." Fassungslos starre ich sie an. "Du denkst also, der Kuss war ein Fehler?"Ich schreie beinahe, ohne es eigentlich zu wollen. Wie kann sie es wagen, so etwas zu sagen? Sie fängt an nervös mit ihrer Halskette zu spielen. "Weißt du Jess, ich bin einfach nicht wie du..." "Wie bist du nicht? Lesbisch?" Sie nickt. Jetzt verliere ich vollkommen die Fassung. "Du sagst mir jetzt also, dass du nicht auf Frauen stehst. NACHDEM du mich geküsst hast? Obwohl du wusstest, wie ich für dich empfinde? Hörst du dir eigentlich selber zu? Weißt du, wie lächerlich du gerade klingst? DU hast MICH geküsst. Nicht andersrum. Das war ganz alleine deine Entscheidung!" Sie antwortet mir nicht und ich weiß, dass ihr klar ist, dass sie hier in erster Linie sich selbst belügt. "Ich muss dir noch etwas sagen, Jess." An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass mir das nicht gefallen wird. Bitte nicht. Bitte sag einfach nichts mehr. 

Doch niemand erhört meine Gebete. Sie spricht trotzdem weiter. "Ich habe mich kurzfristig für einen Amerika-Austausch beworben. Ich bin ein halbes Jahr dort. Das heißt, ich bin bald sowieso nicht mehr in Deutschland." Die Tränen, die gerade weniger wurden, kommen zurück. Wie durch einen Schleier sehe ich ihr trauriges Gesicht. Auch mit einer angeschwollen Wange ist sie immer noch wunderschön. "Wann?" Falls das möglich ist, dann wird ihr Gesicht bei dieser Frage noch ein kleines bisschen trauriger. "Übermorgen." Sie setzt noch etwas hinzu, aber das bekomme ich nicht mehr mit. Ich habe genug gehört. Sie hat also solche Angst davor, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren, dass sie davor in ein anderes Land flieht. Ich habe keine Chance mehr, übermorgen wird sie sowieso weg sein. Ich schniefe laut. "Das war es also?" Obwohl sie die ganze Zeit über gefasst geblieben ist, bilden sich jetzt auch in ihren Augen Tränen. Sie nickt. "Ich wünschte, ich müsste das hier nicht tun. Aber es geht nicht anders. Ich kann mit dir keine Beziehung eingehen. Du bist eine Frau! Meine Eltern..." Tatsächlich. Sie hat Angst, vor dem, was sie ist. Ich versuche es ein letztes Mal. "Wir könnten das gemeinsam schaffen, Iz. Du hättest mich. Du weißt, dass du vor deinen Gefühlen nicht einfach weglaufen kannst? Du musst dich selbst dafür akzeptieren, was du fühlst!" Sie schüttelt nur den Kopf. Das war es also tatsächlich. Es gibt keine Möglichkeit sie umzustimmen. Sie wird nach Amerika gehen und es wird so sein, als hätte es diesen Kuss niemals gegeben. Wie soll ich nur damit leben können? Ich kann die Tränen immer noch nicht stoppen. Ich wünschte, ich könnte wenigstens so tun, als wäre ich stark. Sie lehnt sich nach vorne und fragt: "Darf ich dich in den Arm nehmen?" Ich nicke schluchzend. Tröstend legt sie ihre schützenden Arme um mich und wiegt mich hin und her. Es ist wunderschön. Ich wünschte, es könnte für immer so bleiben, aber ab übermorgen wird sie für ein halbes Jahr am anderen Ende der Welt sein. Plötzlich drückt sie mich ein Stückchen zurück. "Weißt du Jess, das Gedicht hatte noch eine letzte Strophe." Hoffnungsvoll blicke ich sie an, als sie sie mir leise vorträgt. Sie verfällt in einen beruhigenden Singsang. Anfangs ist ihre Stimme noch rau und brüchig, doch sie wird immer fester und nachdrücklicher. 

Mit dem Herzen voller Kummer, muss ich nun gehen,
vielleicht dich nimmer wiedersehen,
Doch gewähr' mir diesen letzten Kuss,
bevor das hier das End' sein muss.

Mit dem letzten Wort drückt sie ihre Lippen auf meine. Erst sehr zart, sodass ich ihre sanfte Berührung kaum spüre, dann immer leidenschaftlicher. Dann löst sie sich von mir und schaut mir tief in die Augen. Ihre Hand streicht über meine Wange. "Irgendwie wirst du damit klar kommen, Jess, das weiß ich." Verzweifelt schüttele ich den Kopf. "Nein, das werde ich nicht." Ich atme tief durch. "Weil ich dich liebe." 

Ich merke, wie meine Worte sie treffen. Ich habe ihr das zwar bereits in meinem Brief geschrieben, aber es so zu sagen ist etwas anderes. Ich sehe, wie sich das süße Fältchen zwischen ihre braunen Augen bildet, als sie gegen die Tränen kämpft. Ich nehme ihren Kopf in beide Hände und küsse sie erst auf die Stirn, dann auf beide Wangen und schließlich auf die Lippen. Sie erwidert meine Kuss, bevor sie mich sanft von sich schiebt. Ihre Augen sind geschlossen, als sie sagt: "Genau so möchte ich dich in Erinnerung behalten." Dann streicht sie mir noch einmal über den Kopf, dreht sich um und geht. 

Ich bleibe unbeweglich stehen und höre wie die Tür hinter ihr zufällt. Das wars. Vorbei. 


She - Als mein Leben ins Wanken gerietWhere stories live. Discover now