[ Winston ]

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Für: @Abbyrai

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Stumm sitze ich auf dem Hocker, der durch die ungleich langen Beine leicht hin und her wippt, wenn man das Gewicht verlagert, und beobachte Winston dabei, wie er jedes Messer einzelnd aus seiner Halterung zieht und es sorgfältig putzt. Dabei sieht er so glücklich aus, so vollkommen zufrieden mit seinem Werk, als gäbe es nichts schöneres auf der Welt, als Schlachtinstrumente zu reinigen. Dabei kann ich mir so viel tollere Aktivitäten erdenken, zum Beispiel aus diesem verdammten gottverdammten Labyrinth ausbrechen und endlich den Grievern und ihrem allnächtlichen Gekreische zu entkommen.

Doch noch besser als das oben Genannte ist, auf einem wackeligen Hocker zu sitzen und Winston zuzusehen, wie er selig vor sich hinlächelt, verträumt und still, wie ihn fast niemand kennt.
Ich lehne mich mit den Schultern gegen die Wand, der Stuhl klopft mit dem kürzeren Bein gegen den Holzboden und Winston sieht auf.
"Bist du immer noch hier?", fragt er mich verblüfft und meine Mundwinkel ziehen sich automatisch nach oben. Das fragt er mich jedes Mal um fast genau die gleiche Uhrzeit, denn jeden Tag vergisst er aufs Neue, dass ich ja immer auf ihn zu warten pflege, bevor ich zum Abendessen gehe. Leicht nicke ich als Antwort, und Winston steckt das unterarmlange Messer, was er gerade in der Hand hin- und herwiegt, mit einer fließenden Handbewegung zurück in die Halterung.
"Dann lass uns mal was zum Futtern holen!", murmelt er mehr zu sich selbst als zu mir und schleudert den Putzlappen unachtsam in die Spüle, ehe er auf mich zugetrottet kommt. Das fahle Licht der hereinscheinenden Abendsonne wirft schmale Streifen auf sein Gesicht und fasziniert starre ich ihn an, völlig gebannt von den Lichtspiel zwischen der Natur und der tollsten Persönlichkeit auf der Lichtung.

"Anja? Noch da?", höre ich Winston fragen, er schnippt mir vors Gesicht und ich zucke zusammen.
"Jaja...", japse ich leicht verlegen, da er mich offensichtlich beim Gaffen erwischt hat. Mit aller Macht versuche ich meine Nervosität herunterzuschrauben, doch meine Wangen haben bereits verräterisch zu glühen begonnen und bringen mich nur umso mehr um mein Selbstvertrauen.
Nun ist es Winston, der zu grinsen beginnt.
"Was denn los?", fragt er scheinheilig und beugt sich zu mir herunter, bis sein Gesicht nahe vor meinem schwebt, näher als es der Höflichkeitsabstand erlaubt. Mein Herz macht einen Satz und in meiner Hast lehne ich mich zu ruckartig nach hinten, der Hocker wankt heftig hin und her und kratzt dabei über den Boden.
Schnell fasst Winston nach unten und hält den Stuhl fest, sodass ich nicht herunterplumpse; ob nun reflexartig oder nicht, vermag ich nicht zu sagen.
Doch eines kann ich auf jeden Fall bestätigen: Er ist nun nah. Sehr nah.
Zu nah?
Auf keinen Fall!
Im Gegenteil, es fehlen nur noch ein paar Centimeter, und dann...

Wieder grinst Winston, wobei seine weißen Zähne aufblitzen wie bei einer Zahnpasterwerbung.
Fast schon in Zeitlupentempo beugt er sich nach vorne und überbrückt den letzen Abstand, bis seine weichen Lippen schließlich auf meinen liegen und mir jegliche Gabe zu hören, zu sehen oder zu denken nehmen. Alles was ich wahrnehme ist die wundervollste, faszinierendste und zugleich auf seltsame Weise harmloseste Person dieser Welt; die mich - mich, Anja, ein einfaches kleines Mädchen - gerade wirklich küsst.

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Oneshots +Where stories live. Discover now