Kapitel 5

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Es ist echt kalt, als ich am nächsten Morgen die Fenster in meinem Zimmer aufreiße. Neugierig beobachte ich, wie die Bäume vom starken Wind angetrieben rascheln. Dieses Geräusch beruhigt mich irgendwie. Fragt mich nicht warum.

Es ist Samstag vormittags und ich habe absolut keine Lust etwas zu tun. Richtig unmotiviert und noch im Pyjama angezogen schlendere ich vor mich hin, bis die Küche in Sicht ist. Mit gewohnten Handgriffen schalte ich den Wasserkocher ein, hole eine Tasse mit einem passendenTeebeutel heraus und einen Joghurt mit Erdbeergeschmack. Meine Lieblingssorte.

Alice ist dieses Wochenende mit ihren Eltern nach Cork gefahren, um ihre Großeltern zu besuchen. So habe ich auch keine Chance, mich bei ihr zu entschuldigen. Nie habe ich gewollt, sie zu beleidigen. Nur mit großer Mühe kann ich das schlechte Gewissen, das sich in mir ausbreitet ignorieren. Das wird schon wieder. Hoffe ich zumindest.

Gerade als ich mich in meinem Zimmer umziehen möchte, kommt Mason auf seinen Balkon. Wie dumm das er mich von seinen vier Wänden beobachten kann. Ich schnappe mir einen Cardigan und ziehe ihn mir schnell an, bevor ich auf meinen eigenen heraustrete. Zwischen uns liegt zwar eine gewisse Entfernung und doch sehe ich, wie mich bereits entdeckt hat und mir zuwinkt. Ich winke zurück. Ehrlich gesagt würde es mich echt interessieren, was er heute so vor hat. Wahrscheinlich gar nichts. Genau! Viel lieber verbringt er seine Zeit damit, alle StarWars Teile zum fragt mich nicht wie vielten Mal anzusehen. Der Film muss ja echt gut sein. Trotzdem werde ich ihn mir nicht ansehen. Tja. Ich gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mich endlich um. Dann suche ich mir mal eine Beschäftigung würde ich sagen.

Der Schweiß tropft von meiner Stirn, als ich das letzte Möbelstück zurecht schiebe. Alle meine Sachen haben nun einen neuen Platz. Gott sei Dank habe ich gestern schon meine Hausaufgaben gemacht. Mit meinen müden Augen blicke ich hinab auf meine Armbanduhr. Kurz nach vier. Das geht noch. Ich lasse mich auf mein Bett nieder und schnappe mir mein uraltes Handy, um zu sehen, ob irgendjemand etwas auf WhatsApp geschrieben hat. Nichts. Nada. Ok dann halt nicht. Gerade als kurz davor bin, einzuschlafen, läutet es an der Haustür. Gott, was habe ich bloß gemacht, um das zu verdienen? Meine Eltern sind wie oft nicht zu Hause. Dieses Mal ist es ein wichtiger Termin in Los Angeles. Seit 4 Wochen. Ganz bestimmt dauert das auch so lang. Aber was soll ich sagen, ich bin es schon längst gewohnt, auf mich alleine gestellt zu sein. Es nicht so, dass sie mich nicht lieben. Wir sind eine glückliche Familie. Eigentlich. Naja jedenfalls liegt mein Zimmer im dritten Stock, weshalb mich nun ein zu weiter Weg erwartet.

Ungefähr eine Minute später bin ich unten. Es ist eine kleine Verzögerung da, weil ich auf den Stufen beinahe ausgerutscht bin. Aber nur fast, ich konnte mich noch fangen. Diese Tolpatschigkeit lasse ich nicht zu. Aber ehrlich gesagt wandern meine Gedanken zu der Frage, wer vor der Tür sein mag. Normalerweise kommt nie jemand, außer dem heiligen Geist, dem himmlischen Kind oder dem Wind. Ja, das sind meine besten Freunde ok? Das ist echt eine große Ehre für mich. Vielleicht. Oder auch nicht. Bei dieser Sache bin ich mir noch nicht so sicher. Als ich die Tür öffne kann ich jedoch meinen überraschten Blick nicht verstecken. Es ist Mason, der es wagt, meine herrliche Ruhe zu stören. Warum ausgerechnet Mason? Reicht es nicht, dass ich ihn schon in der Schule sehen muss? Wie soll ich es denn schaffen, nicht für ihn zu fallen, wenn er so oft in meiner Nähe ist? Okay möglicherweise übertreibe ich ein wenig. So oft sehe ich ihn nun auch nicht.

„Hey", beginnt er. Dazu lächelt er. Das ist gruselig. Auf einem tiefen Level, nur damit klar ist. Nicht hinterfragen, Irina. Das tut dir nicht gut.

„Hi, was gibt's? Ist was passiert?", begrüße ich ihn freundlich. Heute hat er einen grauen Hoodie an. Habe ich erwähnt, dass dieser genau die Farbe seiner Augen hat? Jedenfalls sieht er hinreißend aus. Nicht schwach werden, ruft meine innere Stimme. Er lächelt immer noch. Ist das normal?

„Nichts besonderes. Ich würde dir gerne etwas zeigen und wollte fragen, ob du Lust hast, es zu sehen." Ja gut.

„Ist es draußen oder in deinem Haus?", frage ich vorsichtig. Immerhin könnte das seine neue Masche sein, mich herum zu kriegen. Seine Lächeln wird für einen Moment schwächer, doch er fängt sich fast sofort wieder.

„Es ist im Wald. Also sag, kommst du mit?" Nun drängt er schon beinahe. Ach was soll's, ich habe sowieso nichts besseres zu tun. Ich nicke. Seine Skepsis scheint wie vom Erdboden verschwunden zu sein, denn ehe ich mich versehe packt er mich am Arm und zieht mich mit ihm mit. Bis ich ihn stoppe.

„Woah, chill. Wieso hast du es denn so eilig?", hisse ich. Irgendwie bin ich echt genervt. Keine Ahnung warum.

"Es wird bald dunkel. Bis dahin müssen wir wieder zurück sein.", antwortet er mir gruselig ruhig. Irgendwie habe ich schon damit gerechnet, dass er mit meiner Ungeduld nicht klar kommt. Doch anscheinend ist das nicht der Fall.

Wir wandern mindestens zehn Minuten in voller Stille. Während dem Gehen beobachte ich, wie die Sonne immer mehr und mehr hinter dem Hang verschwindet. Das ist ein sehr malerischer Anblick. Könnte ich zeichnen, dann würde ich jetzt bestimmt am liebsten meinen Skizzenblock heraus holen. Aber nein, Gott hat mir keine Gabe gegeben, aber seien wir mal ehrlich. Wir sind auch nur Menschen. Niemand ist perfekt. Ja gut manche wenige möglicherweise doch. Mit der Zeit, in der wir uns immer tiefer und tiefer in den Wald begeben, fängt mein Orientierungssinn aufzugeben. Noch nie war ich so weit drin. Versteht mich nicht falsch, ich liebe Wälder. Sie haben so etwas beruhigendes und scheinen so zeitlos.

Es vergehen noch mindestens zwanzig weitere Minuten, bis Mason vor mir auf einmal stehen bleibt und sich mir wieder zuwendet. Seine Augen strahlen, als gebe es kein Morgen und seine Hand streckt sich mir einladend entgegen.

Ohne seine Hand näher zu betrachten stelle ich mich an seine Seite und blicke hinunter, wo ich einfach einmal so das Atmen vergesse. Das ist der schönste Ausblick, den ich je hatte. Ich bin keine Mutter und habe noch nie eine Geburt außer meine eigene erlebt und so kann ich das jetzt nicht vergleichen. Doch wenn diese Frauen sagen, dass dies der schönste Augenblick in ihrem Leben gewesen sei, dann haben sie das hier noch nicht gesehen.

Vor uns beiden liegt ein Tal, dass sich in dem flammenroten, orangen, aber auch gelblichen Sonnlicht zu baden scheint. Die Übergänge zwischen den einzelnen Farben scheinen kein Ende zu haben, so tief und weit gehen sie. Es wachsen einige, verschiedene Bäume vereinzelt und um sie herum ist ein Teppich aus Blumen. Schon von bestimmter Entfernung, kann ich Rosen, Tulpen, Rittersporn, Mohn und Ringelblumen erkennen. Irgendjemand muss hier regelmäßig her kommen und sich um die ganzen Pflanzen kümmern. Die Frage ist bloß, wie und warum? Es ist doch mittendrin im Wald. Ich drehe mich zu meinem Schulkameraden um und bemerke, dass er mir plötzlich viel näher ist als zuvor. Physisch gesehen. Wann hat er sich denn bewegt, sodass ich gar nichts mitbekommen habe.

"Es ist wunderschön.",



Honest HumansWhere stories live. Discover now