III. Kapitel - Unstillbare Sehnsucht

41 6 2
                                    

Dieser Geruch. Man konnte es nicht einmal als Geruch bezeichnen. Gestank. Gestank traf es ziemlich gut. Verfluchter Alkohol, verfluchte Droge.

Ihr Stiefvater würdigte sie keines Blickes, als sie Fuß in die Wohnung setzte. Er fuhr fort. Er brüllte, er schrie. Er hatte alles zerstört. Dalia hatte ihren leiblichen Vater nie kennengelernt. Sie kannte ihn nicht. Er verließ die Familie, als er von der Schwangerschaft ihrer Mutter erfuhr. Dennoch sehnte sich Dalia nach ihm. Ein Puzzleteil fehlte in ihrem Leben, der das Bild hätte vervollständigen können. Dalias Mutter wollte nicht, dass Dalia ohne Vaterfigur aufwuchs. Sie hatte sich bemüht, diese Lücke, diese gewisse Leere, die Dalia stets geprägt hatte, aufzufüllen, vergeblich. Alles wurde schlimmer, denn jedes Mal, wenn sie in die Augen ihres Stiefvaters sah, stellte sie sich die Frage, was gewesen wäre, wenn ihr Vater nicht gegangen wäre. Gelieben wäre. Sie durch ihr Leben begleitet hätte. Sie geliebt hätte.  Zu Beginn verlief zwar alles recht friedlich, doch Dalia erkannte die Dunkelheit, die Bosheit, die ihren Stiefvater umgab. Diese Aura, sie spürte sie vom ersten Moment an, als er zum ersten Mal ihr Zuhause betrat. Er war der Teufel, der ihnen noch das Leben zur Hölle machen würde. Sie wusste es.  Ihre Mutter wollte es nie wahrhaben, Dalia bemühte sich, ihrer Mutter die Augen zu öffnen. Alles Camouflage, er hatte ihrer Mutter nur den lieben und netten Mann vorgespielt. Reines Theater. Dies bewahrheitete sich letztes Endes auch. Von Höflichkeit, Respekt und Zuneigung oder Liebe fehlte jede Spur. Er hatte seinen Alkohol und ihre Mutter als Sklavin. Sie musste sich ihm unterordnen, alles tun, was er sagte – kein Widerspruch. Er hatte kein Selbstvertrauen. Seine Aggressivität und sein barbarisches Verhalten spiegelten dies wider. Es war sein Weg, seine Art und Weise zu zeigen, dass er sich für etwas Besseres hielt, doch tief in seinem inneren wusste er, was für ein Wrack er war. Dalia verabscheute ihn.

Es war nicht das erste Mal, dass Dalia eine Auseinandersetzung mitbekam. Es wurde zur Routine. Sie spielte sich immer vor, sich daran gewöhnt zu haben, doch es fraß sie innerlich auf. Es raubte ihr die Kraft. Jede neue Auseinandersetzung riss ihre Wunden erneut auf, die nie zu heilen schienen. Jede neue Auseinandersetzung, ein weiter Stich in ihr Herz, immer tiefer und schmerzvoller. Belastung pur. Dalia spürte den Druck tief in ihrem Inneren. Sie schluckte es runter. Immer und immer wieder. Dalia wurde kurz schwindelig und hielt sich am Türrahmen fest. Sie ertrug dieses Biest nicht. Seine Stimme war eine Höllenqual für ihre Ohren, sein Anblick eine Folter für ihre Augen, sein Dasein ein Übel für ihre Seele. Dalias Mutter bat sie des Öfteren,  sich nicht in die Angelegenheiten einzumischen. Dieses Versprechen beabsichtigte Dalia heute zu brechen. Ihr Stiefvater zerrte ihre Mutter ins Wohnzimmer, Dalia folgte ihnen. Im Gang trat sie auf eine Scherbe, ihr Fuß, er schmerzte kurz. Sie hielt kurz ihre Luft an. Es war die Vase, die runtergefallen war. Dalia atmete tief ein und aus, dies hielt sie nicht ab, diesem Dreckssack den Mund zuzustopfen.

„Es reicht! Siehst du nicht, was du hier anrichtest? Was soll das Ganze? Hast dich wieder volllaufen lassen, was? Du brauchst Hilfe. Mach einen Entzug. Schau doch mal in den Spiegel. Bist du stolz auf dich und deine Taten? Du erträgst dich selbst nicht, du erfindest irgendwelche Gründe, um deine Wut an andere rauszulassen. Du provozierst ständig, weil du ein Problem mit dir selbst hast. Stattdessen diese zu konfrontieren, besäufst du dich, Feigling! Weißt du, was du in meinen Augen bist? Ein Niemand. Ein Nichts."

„Du Göre, wenn ich dich erwische!"

Er machte ein paar Schritte auf sie zu, hob seine Hand und alles was Dalia danach spürte war ein brennender Schmerz. Ihre Wange, sie glühte. Sie war feuerrot. Ihre Mutter trat dazwischen, doch ihr Stiefvater rang sie zu Boden. Er zischte. Ein hämisches Lachen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er stolzierte aus dem Zimmer, als hätte er einen Kampf gewonnen.

Dalia lag einige Minuten reglos auf dem Boden.  Sie musste weg. Weit weg von hier. Ihre Mutter fuhr durch ihre Haare, flüsterte in ihr Ohr, dass es besser werden würde. Er hatte einen schlechten Tag gehabt. Immer diese Ausreden. Dalia wollte allein sein. Sie musste an die frische Luft. Sie nahm ihre Tasche und ging raus.

Ein Hauch kühler Abendluft, dass hatte sie gebraucht. Sie schlenderte durch die hellbeleuchteten, belebten Straßen von New York.  Eine Familie kam Dalia entgegen. Ein kleines Mädchen, vermutlich um die sechs Jahre alt, blieb fasziniert vor einem Laden stehen.

„Papa, Papa! Schau mal, die Puppe! Die möchte ich zu meinem Geburtstag haben! Du kaufst sie mir doch, oder?"

Für dich, alles meine Kleine."

Er gab seiner kleinen Tochter einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und nahm sie wieder an die Hand. Sie gingen an Dalia vorbei. Dalia hatte sich kurz umgedreht, beobachtete die beiden und tauchte in ihr Gedankenimperium ein. Sie bewunderte diese Beziehung, sehnte sich nach Liebe, Aufmerksamkeit, Fürsorge, Zärtlichkeit. Ein aufrichtiges Lächeln umzingelte ihre Lippen, sie freute sich für das Mädchen. Sie hatte jemanden, der für sie da war. Dalias mentale Abwesenheit sorgte dafür, dass sie einem Spaziergänger direkt in die Arme lief.

„Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst? Mein Handy wäre mir beinahe aus der Hand gefallen."

Diese Stimme. Diese blauen Augen. Die durchwuschelten Haare. Clarke.

Bailey? Du? Muss ich dir jetzt auch noch das Laufen beibringen? Unfassbar. Weißt du wie viel dieses Handy wert ist?"

„Clarke, ich habe keine Lust mich mit dir zu streiten. Deinem beschissenen Handy geht es prima. Oder warte. Beschwert es sich gerade? Hm, streichele es am besten. Es wird sich schon vom Schock erholen."

Dalia ging weiter. Sie hatte nicht vor dieses absurde Gespräch noch weiter in die Länge zu ziehen.

„Warte kurz, Bailey. Was ist mit deinem Gesicht passiert?"

Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, zeigte ihm schlicht den Mittelfinger und ließ ihn völlig perplex auf der Straße stehen. Er schüttelte mit dem Kopf und hob die Arme in die Luft.

Nach dem zufälligen Aufeinandertreffen mit Clarke, hatte Dalia sich auf dem Dach einer Shopping-Mall zurückgezogen. Es war eine Art Rückzugsort für Dalia in den vergangenen Jahren geworden. Immer, wenn es ihr schlecht ging, führte sie der Weg hierher. Der Blick auf die New Yorker Skyline war atemberaubend. Ein perfekter Ort zum Nachdenken. Ein perfekter Ort zur Selbstreflexion. Dalia stützte sich an der Betonmauer ab und genoss die Aussicht. Sie sah so verloren aus. Dalia verhungerte seelisch. Sie fühlte sich so einsam und es schmerzte. Eine Mutter hatte sie, aber eine wirkliche emotionale Nähe zu ihr aufzubauen, war kompliziert. Die Umstände Zuhause erlaubten es ihr nicht. Solange er da war, war es nicht möglich. Definitiv nicht. Diese unstillbare Sehnsucht. Sie fühlte sich von der Welt verlassen. Einsamkeit war ihr Dauerbegleiter.

Dalia seufzte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie hätte gerne jemanden gehabt, dem sie sich hätte öffnen können. Eine Schulter zum Anlehnen, jemand der sie auffing. Jemand, der sie verstand.

„Wann finde ich dich bloß?", sie schluchzte und ließ ihre Tränen frei in Lauf.

Torn Apart - AuseinandergerissenDove le storie prendono vita. Scoprilo ora