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(I) elf

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Lilian

Alles wandelt sich, nichts vergeht.

Es gibt im ganzen Weltkreis nichts Beständiges. Alles ist im Fluss, und jedes Bild wird gestaltet, während es vorübergeht. Ja, auch die Zeiten gleiten in ständiger Bewegung dahin, nicht anders als ein Strom. Denn stillstehen kann weder der Fluss noch die flüchtige Stunde ... Kein Ding behält seine eigene Erscheinung, und die ewig schöpferische Natur lässt eine neue Gestalt aus der anderen hervorgehen, und – glaubt mir – in der ganzen Welt geht nichts zugrunde, sondern es wandelt sich und erneuert sein Gesicht ... Und während vielleicht das eine hierhin, das andere dorthin übertragen wird, bleibt doch insgesamt alles bestehen.

Ich las die Zeilen aus Ovids Metamorphosen erneut. Und dann erneut, und erneut.

„Alles wandelt sich, nichts vergeht", murmelte ich zum wiederholten Male vor mich hin und ein Mädchen aus einem der unteren Jahrgänge, das im selben Gang der Schulbibliothek saß, sah mich verwundert an. Ich ignorierte sie und griff meinem Kaffeebecher, dessen Inhalt ich in einem großen Schluck meine Kehle hinunterlaufen ließ.

Alles wandelt sich, nichts vergeht. Man konnte nicht einfach sagen, dass wir Menschen egoistisch waren, so simpel war der Sachverhalt nicht. Unser Egoismus reichte so weit, dass wir alles, wirklich alles tun würden, um unsere Ziele zu erreichen. Vor allem wenn es um unsere eigenen Existenz oder das eigene Überleben gingeht. Wir waren wandlungs- und anpassungsfähige Wesen, es war so tief in unserem Unterbewusstsein verankert, dass wir es vielleicht nicht mal selbst merkten. In den modernen Zeit ging es da vor allem um unseren Charakter und unseren Geist; und wenn du dich einmal gewandelt hattest, ist es ein Leichtes, sich darin zu verlieren. Oft gab es auch kein Zurück mehr, die Wandlung, der wir uns selbst unterzogen haben, war nicht nur temporär.

Manchmal fragte ich mich, wie sehr ich mich selbst über die letzten Monate gewandelt hatte, und was der Auslöser dafür war. So viel hatte sich verändert; mein naiver, unschuldiger Blick auf die Welt war dem rationalen Gedankengut einer jungen Frau gewichen, die dabei war sich selbst aufzugeben. Zurückgeblieben war ein Wrack, das nachts von Albträumen heimgesucht wurde von zähnefletschenden Monstern, dem Gefühl, körperlich ausgeliefert zu sein. Tagsüber war es der Wahn, auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden. An jeder Ecke dachte ich, der Schatten, der dort lauerte, könnte sich mir beim Vorbeigehen in einer menschlicher Silhouette entgegenstellen, jedes Mal, wenn mein Handy vibrierte, blieb mein Herz kurz still stehen.

Doch von Dylan war keine Spur, die Nachrichten schienen bei Tageslicht sogar fast harmlos. Er würde mich niemals finden können, jetzt, da ich aus London weggezogen war.

„Wenn das mal nicht meine außerordentliche Projektpartnerin ist." Tyler Brown pfefferte seine Tasche mir gegenüber auf den Stuhl und grinste breit, in seiner Hand hielt er ein zerfleddertes Exemplar von Ovids Metamorphosen. „Bist du schon zu dem Part gekommen, an dessen Stelle man mystische Wesen wie Werwölfe mit der griechischen Antik vergleichen kann?"

„Was habt hier hier alle nur mit euren Wölfen?", entfuhr es mir im Flüsterton, doch mein Gegenüber lachte nur leise.

„Es ist dieser Ort, Lily", wisperte er verschwörerisch. „Er zieht alle möglichen Kreaturen mit Abgründen in der Seele an, ob menschlich oder tierisch. Du wirst schon sehen."

Unwillkürlich musste ich frösteln. „Du bist ein Idiot", stellte ich klar und gab ihm einen spielerischen Schlag auf die Schulter. „Wenn du mir allerdings Angst einjagen willst, braucht es mehr als Märchen über Menschen, die sich bei Vollmond in ein Tier verwandeln, es muss schon realistischer klingen."

„Na gut." Er hob kapitulierend die Hände. „Ich gebe zu, das war sehr naiv von mir. Lass uns lieber zu der realistischen Geschichte Ovids übergehen, in der Minerva Ariadne in eine Spinne verwandelt, um sie vor dem Tod zu bewahren."

Mate - AeternitasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt