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(I) eins

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Lilian

Jeder von uns hat Narben – auf der Seele, auf dem Körper.

Narben, die für immer zeigen, was für ungerechte Dinge uns von anderen angetan wurden. Was für Monster andere Menschen sind.

Narben, die nie verblassen werden, die zeigen, was für schreckliche Dinge wir selbst getan haben. Was für Monster wir sind.

Manch einer schmückt sich mit seinen Narben wie mit bunten Federn, sie ziehen Aufmerksamkeit auf sich, manchmal als Hilferufe, manchmal als Auszeichnung. Manch anderer versteckt seine Narben so tief in sich, dass sie nie, nie ans Tageslicht kommen werden.

Manch einer geht an seinen Narben kaputt, manch anderer kämpft mit ihnen, Tag für Tag.

-

Es hätte ein eintöniger, gewöhnlicher Morgen werden können, so grau und ereignislos wie alle zweihundertsiebenundvierzig vergangenen Tage dieses Jahres.

Die Straßen waren grau und eintönig, die Häuser waren eintönig, sogar die vielen Gesichter, die mir beim Vorbeigehen flüchtig entgegenblickten, jeder war gefangen in seinem eigenen, farblosen Alltag.

Alles war eintönig und gewöhnlich wie ein Satz, den man immer wieder von vorne las und es so oft wiederholte, dass jedes Wort schon zu Genüge im Gedächtnis verankert war.

Alles war eintönig und gewöhnlich, aber vor allem auch beängstigend fremd.

Vielleicht hatte meine Familie diesem Alltagstrott, diesem ewigen Rennen gegen die Zeit entfliehen wollen und dachte, ein kleines Stückchen Seelenfrieden mit dem Umzug zu finden, aber das Klischee, neue Stadt, neues Glück war bislang noch nicht eingetreten; die einzige Errungenschaft war, dass ich mein altes, geordnetes Leben aufgeben musste, ohne jeglichen Gewinn.

Während meine alten Freunde ohne Veränderung weiterhin ausgelassen feierten, sich an den Wochenende betranken, das Leben genossen und gemeinsame Erinnerungen schufen, saß ich nord-östlich von London in einer viel zu kleinen Stadt fest, deren Einwohnerzahl weit unter zwanzigtausend lag und deren Namen ich auf der Zunge liegen hatte, er mir trotzdem aus dem Gedächtnis entfallen war. Wohin das Auge reichte, umgab den städtischen Raum ein schier endloses Waldgebiet, das die hier lebenden Menschen wie unter einer Glashaube von der Außenwelt abschnitt. Ich hatte mich noch nie der Natur so nah gefühlt.

Doch das alles machte leider nicht den Verlust wett, kurz vor dem Schulabschluss aus dem gewohnten Umfeld gerissen und mit hunderten von neuen Gesichtern konfrontiert zu werden, von denen vielleicht ein paar wenige zu Freunden werden würden.

Der Rest würden Fremde bleiben.

Was mich auch zurück zu meiner aktuellen Situation brachte.

„Verdammt." Ich hastete orientierungslos durch die alle gleich erscheinenden Korridore im Schulgebäude, in der einen Hand baumelten meine Kopfhörer, in der anderen der nur halb ausgetrunkene Kaffee, der leider seine Wirkung nicht zeigen wollte.

Der Morgen hatte bereits fatal angefangen, als die Kaffeemaschine in unserem neuen Haus partout nicht funktionieren wollte und ich somit gezwungen gewesen war, vor der ersten Stunde in einer Bäckerei anzuhalten, was die Folge hatte, dass ich jetzt mehr als eine Viertelstunde zu spät meinen Klassenraum suchte.

Die Flure waren wie leergefegt und ich rannte förmlich an den unzähligen, gleich aussehenden Türen vorbei und bog mehrmals falsch ab, bevor ich schließlich schwer atmend vor dem richtigen Klassenzimmer stand. Mein Herz klopfte wild, meine Hände waren verschwitzt und ich war mir ziemlich sicher, dass mein Lidstrich an den Augenwinkeln leicht verschmiert war.

Mate - AeternitasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt