6 - Die Burg

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>> Mina Harker <<

  Ich brachte Deigo zum Stehen und band seine Zügel an einem großen, knorrigen Ast fest. Ich hüpfte förmlich die letzten paar Meter, die mich noch von der Burg trennten. Meine Begeisterung wuchs ins Unermessliche. Als ich die Ruinen erblickte, hielt ich für einen Moment die Luft an. Ich stand tatsächlich vor den Ruinen der Burg Draculas, dem wohl bekanntesten und gleichzeitig unbekanntesten Fürsten der Geschichte.

Sofort lief ich zu Vlad, der ein Stück abseits von mir scheinbar verträumt an der Mauer entlangstrich. Ich konnte einfach nicht anders, als meiner Begeisterung mit Worten Luft zu machen. Doch Vlad schien so...abwesend. Genau konnte ich das gar nicht sagen. Seine Freude über die Ankunft schien nicht ganz echt zu sein, obwohl er sehr überzeugend wirkte. Ich wurde nicht schlau aus ihm.

Mein Team war bereits damit beschäftigt, ihr Equipment aus den Satteltaschen ihrer Pferde zu sammeln und das "Forschungszelt" aufzubauen. Dieses Zelt war im grunde nichts anderes als ein vorläufiger Lagerplatz für Ausrüstung und Fundstücke. Auch ich machte mich daran, Deigos Satteltaschen zu leeren und meinen Teil zum Aufbauen beizutragen.

Meine Ausrüstung bestand größtenteils aus Lupen, kleinen Pinseln und anderem feinen Werkzeug, da ich besonders auf Details spezialisiert war. Entdeckten die anderen etwas, gaben sie es mir und ich arbeitete alles heraus, was das Fundstück so zu bieten hatte. Bisher war meinem scharfen Blick noch nichts entgangen.

Und doch schien mir etwas ganz grundlegendes zu entgehen: was Vlad für diesen Ort empfand. Je länger ich ihn beobachtete, desto merkwürdiger erschien mir alles. Er verhielt sich, als wäre ihm alles gleichzeitig vertraut und dennoch fremd, er hatte so einen Blick, als würde er diese Ruine so sehen, wie sie vor ihrem Verfall gewesen war. So als sähe er die prächtige Burg Vlad des Pfählers.

Vollkommen in meine Gedanken vertierft, bemerkte ich nicht, dass ich Vlad durchgehend anstarrte. Sogar als er auf mich zukam, realisierte ich es nicht. Erst als Vlads Stimme mich in die Realität zurückholte, gewann ich die Kontrolle über meinen Körper wieder.

"Was ist denn, Mina?", fragte er mich müde lächelnd. Da war es wieder. Dieses müde, traurige Lächeln und dieses schmerzhafte Schimmern in seinen Augen.

Ich schüttelte kurz den Kopf und lächelte warm und aufrichtig zurück. "Nichts, alles gut. Ich war nur so in Gedanken versunken...", antwortete ich. Dieses Mal war sein Lächeln echt. "Und dabei starrst du mich die ganze Zeit an?", zog er mich auf.

Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und senkte den Kopf. "Ich hab dich nicht angestarrt...", murmelte ich und spürte, wie mir Röte ins Gesicht schoss. Ich wollte ihn fragen, was er mit diesem Ort verband, wollte wissen, wieso in seinem Blick so viel Schmerz liegt, wenn er ihn über die Überreste der Burgmauern schweifen lässt. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe.

Vlads starke Hand hob meinen Kopf soweit an, dass ich ihm in die Augen sehen musste. "Was ist denn los?", fragte er beinahe schon etwas besorgt. Ich nahm seine Hand in meine und drückte sie kurz ganz sanft. "Es geht mir gut. Ich werde mal sehen, ob die anderen Hilfe brauchen.", wand ich mich aus der Unterhaltung und bewegte mich raschen Schrittes auf das halb aufgebaute Zelt zu.

Ich berührte meine Hand dort, wo ich die seine berührt hatte. Wieso hatte ich das gemacht? Es war ganz intuitiv gewesen, so als hätte ich es bereits hundertmal zuvor getan.

Als ich mich kurz noch einmal umblickte, sah ich, dass auch Vlad von meiner merkwürdigen Berührung verwirrt zu sein schien. Er starrte seine Hand an als hätte ihn ein Geist berührt. Kopfschüttelnd ging ich weiter.

Gerade, als ich zu den anderen stieß, hämmerte Gabriel den letzten Haken in den Boden und befestigte die Zeltwand daran. In dessen Inneren baute Nancy schon ihren Arbeitplatz auf; sie hatte einen langen Klapptisch aufgestellt und verteilte ihre Werkzeuge darauf. Ich platzierte meine daneben.

Unwillkürlich musste ich wieder grinsen, als ich daran dachte, dass wir in Kürze mit der Ausgrabung beginnen würden.

~*~

Das Ende des Tages rückte näher und färbte den Himmel in ein wunderschönes orange-rot. Da die Dunkelheit bereits zu sehr fortgeschritten war, um noch weiterzuarbeiten, hatten wir für heute Feierabend gemacht. Wir hatten einiges entdeckt, aber mussten feststellen, dass nicht viel aus den Ruinen zu retten war. Dennoch waren wir voller Zuversicht, dass dies eine erfolgreiche Zeit werden würde.

Ich hatte gerade Deigos Satteltaschen wieder gepackt und mich neben ihn ins weiche Gras gelegt, als Vlad neben mir auftauchte. Er beugte sich über mich und lächelte.
"Und, wie war der erste Tag?", wollte er wissen. Ich setzte mich auf und bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen. Ich kuschelte mich fester in meinen dicken Mantel.

"Es war traumhaft. Wir haben einige Sachen gefunden, auch wenn nicht mehr allzu viel zu retten ist. Aber ich denke, es wird trotzdem eine tolle Zeit!", sprudelte ich hervor. Im nächsten Moment hätte ich mich dafür ohrfeigen können, denn Vlad find an zu lachen. Röte schoss mir ins Gesicht. "'Tschuldige.", nuschelte ich. Er lachte immer noch ein bisschen. "Du musst dich doch nicht entschuldigen!", meinte er. "Ist doch schön, wenn es dir hier gut gefällt."

Ich sah ihn wieder an und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Dann seufzte ich einmal tief und beobachtete die milchig-weißen Wölkchen, die aus meinem Mund aufstiegen. Es war mittlerweile schon fast ganz dunkel geworden.

Auch Vlad schien innerlich aufzuseufzen, bevor er aufstand und mir aufhalf. "Wir sollten gehen, bevor es zu dunkel zum Reiten wird.", schlug er vor. Ich nickte nur und lehnte mich an Deigos warmen Hals. Die Müdigkeit schien mich langsam zu übermannen.

Vlad machte eine kurze Runde und trommelte alle zusammen, bevor er selbst auf sein Pferd stieg. "Ist es nicht schon viel zu dunkel?", äußerte Tina berechtigte Zweifel. "Man sieht kaum die Hand vor Augen.", stimmte Alex zu. Ich schnaubte. "Wollt ihr hier übernachten?", fragte ich. Gabriel und Alex sahen sich kurz an. "Also, Zelte hätten wir mit...", setzte Gabriel an, doch Vlad unterbrach ihn.

"Keine Sorge, ich sehe noch genug und kenne den Weg. Das ist kein Problem.", versuchte er sie zu beruhigen. Keiner meiner Kollegen schien sonderlich begeistert darüber zu sein, aber das kümmerte Vlad reichlich wenig und ritt einfach los. Ich schloss zu ihm auf.

"Bist du sicher, dass du den Weg findest?", fragte ich ihn ganz leise, denn ich musste zugeben, dass die anderen Recht hatten. Vlad lächelte mich auf eine für mich undefinierbare Weise an und nickte knapp. "Ganz sicher. Ich kenne diese Gegend wie meine Westentasche.", sagte er und trabte sein Pferd an.

Ein wenig verdutzt blieb ich zurück. Dieser Mann tat mir immer wieder neue Rätsel auf. In Gedanken legte ich mir eine To-Do-Liste an, auf die soeben als ersten Punkt gerückt war, herauszufinden, was es mit Vlad auf sich hatte. Nachdenklich schloss ich wieder zu ihm auf und ritt an seiner Seite weiter.

~*~

Vlad hatte nicht gelogen, als er sagte, dass der Rückweg kein Problem sein würde. In null-komma-nichts waren wir wieder im Dorf angelangt. Alle außer Vlad und mir verabschiedeten sich und machten sich schnellen Schrittes auf den Weg in ihre Pensionen, denn der Abend, der mittlerweile zur Nacht geworden war, wurde immer kälter. Wir brachten die Pferde zurück in den Stall.

Als wir endlich alle abgesattelt, gefüttert und in ihre Boxen gebracht hatten, ließ ich mich auf einen Strohballen plumpsen. Das war ganzschön anstrengend gewesen.
Vlad setzte sich neben mich. Ernsten Blickes sah ich ihn an.

"Wie hast du...", fing ich an, zögerte dann jedoch, da ich selbst nicht wusste, was ich eigentlich fragen wollte. "Wie hab ich was?", fragte er. Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte dann den Kopf, um es abzutun. Doch seine Neugierde war geweckt. "Was, Mina?", hakte er nach. Ich lächelte wieder. "Ist schon gut. Ich weiß selber nicht so genau, was ich fragen wollte.", antwortete ich lächelnd.

Ich blickte ihm lange in die Augen, er hielt meinem Blick stand. Ich versuchte zu ergründen, was in ihm vorging, denn gerade jetzt sah ich so viele Gefühle in seinem Blick, dass es mir beinahe den Atem raubte. Da war Freude und Zufriedenheit, aber auch wieder dieser leichte Schimmer von Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Aber das, was mich am meisten verwunderte, war die Erleichterung, die er förmlich ausstrahlte. War er womöglich erleichtert darüber, dass ich ihn nicht gefragt hatte? Ich wurde wieder einmal nicht schlau aus ihm.

"Wie lange wollen wir uns denn noch so anstarren?", fragte er meinem Blick immer noch standhaltend. Ich hatte wieder unbewusst die Augenbrauen zusammengezogen und die Stirn in Falten gelegt, wie immer, wenn ich konzentriet nachdachte. Ich atmete tief durch und fing dann an zu lachen.

"Entschuldige, ich war so versunken...", brachte ich hervor, während ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Auch er fing an zu lachen. "Sind meine Augen denn so interessant?", fragte er. Ich hörte auf zu lachen und sah ihm wieder in die Augen. "Ja, eigentlich sind sie das...", antwortete ich ehrlich. Dann boxte ich ihm in die Seite. "Irgendwann werde ich noch herausfinden, was mit dir los ist, Vlad!", verkündete ich wieder lachend und stand auf. Er zögerte einen Moment, folgte mir dann aber.

Als wir das Scheunentor verriegelt hatten, wie uns der Pferdewirt gesagt hatte, betrachtete ich noch einmal den klaren Sternenhimmel. Tief sog ich die kalte und klare Nachtluft ein. Ein letztes Mal drehte ich mich zu Vlad um. "Wir sehen uns morgen.", sagte ich. Doch als ich bereits einige Schritte gegangen war, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. "Es ähm...war wirklich schön mit dir. Danke."

Damit verschwand ich in die Nacht und ließ ihn mit seinen Gedanken alleine.  

Man lebt nur zweimal [Dracula Untold FF]Where stories live. Discover now