Es war nichts zwischen uns passiert, trotzdem kam es mir vor, als hätte uns Wills älterer Bruder in einem unglaublich intimen Moment unterbrochen.

„Will, wir sollten jetzt gehen." Jacksons Stimme wurde von der leichten Brise in unsere Richtung getragen und sein Bruder ließ widerstrebend mein Handgelenk los. Es war, als würde ein unsichtbares Band reißen, zurück blieb ein immer stärkeres Gefühl der Sehnsucht. Wortlos drehte sich von mir weg und stapfte langsam durch das Gras, als er an mir vorbeilief, wehte mir ein herber Duft nach Minze und Männershampoo entgegen.

Keiner der beiden Brüder sagte noch ein Wort, als sie mich verwirrt stehen ließen und verschwanden.

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Mit quietschenden Reifen bog ich in die abgelegene, verlassende Einfahrt und wirbelte dabei eine Wolke aus Staub und Abgasen auf. Auf der anderen Straßenseite erstreckten sich aneinandergereihte Platanen, die lange Schatten auf den Asphalt warfen, ein paar hundert Meter weiter standen die ersten Häuser neben dem heruntergekommenen Schild mit der verrosteten Aufschrift ‚Eleveden'.

Willkommen in deinem trauten neuen Heim, Lilian, dachte ich humorlos und stellte den Motor meines schwarzen BMWs ab. Ich war meinem Vater unglaublich dankbar gewesen, dass er durch die Beförderung nicht nur den Umzug initiiert hatte, sondern wenigstens die Muße gehabt hatte, mir einen Gebrauchtwagen zu kaufen. Wie ich mich sonst an diesem Ort ohne richtige Personenverkehrverbindungen hätte fortbewegen sollen, war mir ein Rätsel.

Als ich mit knallender Tür ausstieg, betrachtete ich die dunklen Baumwipfel des Waldes hinter unserem Grundstück, die bedrohlich in den Himmel ragten. Man hörte hier kein lautes Brummen der Motoren auf den Schnellstraßen. Die Nachbarhäuser waren so weit entfernt, dass man kein Geschrei der Kinder hören konnte. Nur das Krähen der Raben und das Rauschen des Windes durchbrach die Stille.

Es war ruhig und einsam.

Ich stieg die Treppe zu der altmodisch weiß gestrichenen Veranda hoch und schloss die Tür auf. Zugegebenermaßen war unser Haus auf eine einzigartige Art und Weise schön, mit den hohen Fenstern und der grauen Klinkerfassade, nur die weißen Spitzenvorhänge erinnerten mich zu sehr an meine verrückte Großmutter Gertrud, vor der ich als Kind panische Angst gehabt hatte. Zwar wurde mir von meiner Familie eingebläut, dass sie harmlos war und lediglich einen individuellen Charakter besaß, aber beruhigt hatte mich das nicht. Immerhin war sie fest davon überzeugt, dass die alte asiatische Teekanne, die ihr zu Weihnachten von ihrem Yogaguru geschenkt worden war, die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemannes war.

Kaum hatte ich die Tür geschlossen und dabei fast die sehr lockere Türklinke abgerissen, lief ich fast in meinen zwei Jahre jüngeren Bruder Miles rein, der geschäftig seine Jackentaschen durchwühlte.

„Keine Chance, unsere Mutter hat dein Gras bestimmt schon gefunden und liquidiert", begrüßte ich Miles und wuschelte ihm durch die braunen Haare.

„Du bist ja richtig witzig drauf", murrte er und wich meine Hand aus, als ich sie erneut nach ihm ausstreckte. „Lass das, ich bin keine zehn mehr."

„Nein, da hast du recht, du bist jetzt ein cooler Sechzehnjähriger, der kifft und Skateboard fährt, weshalb er sich von seiner Schwester nicht mit dem Auto mitnehmen lässt." Ich verdrehte die Augen. „Wie war dein erster Tag in der Hölle?"

„Hey, ich hatte nun mal früher aus als du, da warte ich doch nicht zwei Stunden auf dich", meinte er schulterzuckend und ich bemerkte, dass er anscheinend endlich das gefunden hatte, wonach er suchte, und eine kleine Plastiktüte in seiner Hosentasche verschwinden ließ. „Es war aber in Ordnung. Die Leute sind okay."

Mate - AeternitasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt