Kapitel 26

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Kapitel 26

Gabriel hatte die Elite seiner ihm unterstellten Soldaten ausgewählt und zu einer nächtlichen Konferenz versammelt. Zweifellos waren ihnen die dämonischen Heere überlegen, also galt es, den Anführer auszuschalten, dann würden sich die Dämonen schon verstreuen. So zumindest Gabriels Theorie.

Er blickte in die elf mit Ruß und Erde dunkel gefärbten Gesichter seiner Mitstreiter, die sich komplett eingerieben und schwarz gekleidet hatten, um mit der Nacht verschmelzen zu können. Noch immer lastete die unnatürliche Dunkelheit, die Lucifer zur Abschreckung hervorgerufen hatte, über dem Himmel. Selbst mit Laternen konnte man nicht mehr als wenige Zentimeter in die Finsternis leuchten.

Da sich vor dem Lager der Dämonen natürlich Wachen postiert hatten, hatte Gabriel für sein vom Herrn nicht genehmigtes Attentat den Luftweg gewählt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion, mit geschwärzten Gesichtern und Flügeln würden sie diesen Krieg so unblutig wie möglich beenden, das war der Plan.

Lautlos erhoben sich die zwölf Engel unter Gabriels Führung in die Luft. Mit ausgebreiteten Schwingen glitten sie mit möglichst wenigen Flügelschlägen durch die tiefschwarze Nacht, das Lager der Dämonen fest im Blick.

„Leise", ermahnte Gabriel, als sie die ersten Wachen passierten, die offenbar nicht einmal daran dachten, den Luftweg zu kontrollieren. Lucifer fühlte sich zu sicher in seinem Lager! Dachte er wirklich, der Himmel würde nach dieser ersten Niederlage einfach kuschen? Was für ein arroganter König!

Früher hatte Gabriel den Lichtbringer für seine Tapferkeit und seinen Edelmut bewundert. Wie er sich für die niederrangigen Engel eingesetzt und Gerechtigkeit gepredigt hatte. Doch schließlich war dieser Ehrgeiz in Hass umgeschlagen, Hass gegen den Herrn und irgendwann auch den Himmel.

Ein leises Seufzen entwich Gabriel. Lucifer hatte ihm zu viel genommen. Er würde ihn noch heute Nacht vernichten!

Unmittelbar vor ihm tauchte ein kaum wahrnehmbarer, da transparenter Gegenstand aus dem Dunkel auf. Instinktiv wich Gabriel nach oben aus und achtete darauf, die mitten in der Luft schwebende Kugel von etwa 30 Zentimeter Durchmesser nicht versehentlich mit den Flügeln zu streifen.

„Achtung!", zischte er. „Irgendetwas schwebt hier in der Luft!"

Die Methode war alles andere als neu – unsichtbare Stolperfallen in der Luft, die an Klingeln oder ähnlichem befestigt waren. Berührte man sie, wurde es unten im Lager bemerkt.

Je weiter sie vordrangen, desto dichter wurde die Dunkelheit, die inzwischen dick wie Rauch war und sich bei jedem Flügelschlag leicht kräuselte. Ein wahrer Hindernisparkour begann, während die zwölf Engel verzweifelt versuchten, keinen der durchsichtigen Ballons zu berühren, die nun im Abstand von etwa zwei Metern in verschiedenen Höhen in der Luft baumelten.

Als er das Zelt des Höllenkönigs, dessen Position er schon vorher ausgemacht hatte, unter sich ausmachen konnte, gab Gabriel seinem Gefolge den Befehl zum Sinkflug. Sie wollten das Zelt stürmen und den König überwältigen, bevor dieser Alarm schlagen konnte.

In einer trichterförmigen Formation schraubten sich die Engel abwärts, immer darauf bedacht, nicht zu auffällig über dem Lager zu kreisen. Gabriel, der die Formation anführte, hatte den Blick fest auf das Ziel gerichtet: mit dem Schwert würde er die Zeltplane durchtrennen und in zwei Minuten wäre kein Funken Leben mehr in Lucifer.

Sie hatten sich unbemerkt in Position versammelt, als ein kurzer Lichtbalken aus dem Zelt schien, als dessen Eingang geöffnet wurde. Gabriel starrte auf den Dämon herab, der in die Nacht herausgetreten war, nun den Kopf in den Nacken legte und mit glühenden Augen zu ihnen hinauf starrte. Gabriel bildete sich ein, ein diabolisches Grinsen auf dessen Gesicht zu erkennen, als Lucifer jemandem ein Handzeichen gab.

Ein einzelner brennender Pfeil durchschnitt die Dunkelheit und im gleichen Moment schrie Gabriel zum Rückzug. Die Ballons waren keine Alarmanlage gewesen, sondern ein undurchdringlicher Schutzwall, wenn man sie mit brennbarem Gas füllte und dieses beim Auftauchen von fliegenden Eindringlingen kontrolliert entzündete.

Gabriels Truppe hatte kaum zwei Flügelschläge getan, als der Himmel in Feuer und Hitze explodierte.

Lucifer hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen weit aufgerissen, während die Hitze der Explosion seine Haare verbrannte und die Zelte des Lagers in Brand steckte. Das Feuer der Explosion spiegelte sich in seinen rot glühenden Augen, während er den Tod der größten Krieger des Himmels beobachtete, den Anblick in sich aufnahm und den tiefen Triumph kostete. Der Himmel brannte und er brannte durch seine Hand, er, der vom Himmel und den Engeln verstoßen worden war, würde dieses Reich zu Fall bringen!

Dort oben verbrannten sie, diese edlen Krieger Gottes, in ihrem Bemühen, den Himmel vor Schaden zu bewahren!

Ein tiefes Knurren entstieg Lucifers Kehle. Das Spektakel endete so schnell, wie es begonnen hatte, und erste Jubelschreie erklangen aus dem Lager. Jeder hier sah den Untergang des Himmels deutlich vor Augen, in einer Feuerwolke würde er verglühen, bis nur noch schwelende Ruinen übrig blieben und sich niemand mehr des Erbes des Himmels erinnerte.

Die Entscheidung stand unmittelbar bevor.

Tränen vernebelten Raphaels Blick, als er auf den fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Körper starrte, der einmal sein Bruder gewesen war.

„Gabriel...", hauchte er kaum hörbar. „Gabriel, tu mir das nicht an, bitte...!"

Jemand legte ihm in einer tröstenden Geste die Hand auf die Schulter, aber Raphael schlug sie weg. Er wollte kein Mitleid, keinen Trost. Er wollte mit seinen Brüdern vereint sein, mit Michael, der viel zu früh das Leben verlassen hatte und inzwischen als Held geehrt wurde, und mit Gabriel, der sich für die Sache des Himmels geopfert hatte und in Vergessenheit geraten würde.

Eine entsetzliche Einsamkeit machte sich in Raphael breit und die Zukunft zerbrach vor seinen Augen. Was sollte er jetzt tun? Er war ganz alleine in der Kälte des Krieges zurückgelassen worden.

„Gabriel... Michael... warum?!" Er schrie, schrie seine ganze Wut und Angst und Trauer aus sich heraus, bis sein Hals schmerzte und seine Ohren dröhnten. Keuchend und mit zitternden Flügeln sah er sich zu den umstehenden Engeln um – lauter leere Gesichter, voll Mitleid und Bedauern, aber ohne Bedeutung. So ruhig wie möglich bat Raphael darum, mit seinem Bruder alleine gelassen zu werden, dann kniete er sich schweigend neben dessen Totenbett und betrachtete ihn.

Die kräftigen, vernarbten Flügel waren halb verbrannt, der Rest der Federn geschwärzt. Vom Sturz waren zahlreiche Knochen gebrochen und es stank nach verbranntem Fleisch. Eine Gesichtshälfte war tatsächlich verkohlt, die andere wirkte wächsern und künstlich. Ein einzelnes Auge starrte ins Leere.

Raphael dachte immer, sein Bruder würde mit einem Lächeln ins Totenreich eingehen, da mit dem sicheren Gewissen, dem Himmel gedient zu haben. Doch diese Leiche lächelte nicht, sie wirkte falsch und unwirklich. Das war doch nicht Gabriel, das konnte nicht sein!

Ein klagender Laut entkam Raphael, bevor er wieder in Tränen ausbrach und die Wange verzweifelt gegen Gabriels Brust lehnte, um zu prüfen, ob nicht doch noch etwas zu hören war; natürlich war das unmöglich, Gabriels halber Unterkörper fehlte, aber Raphael konnte sich nicht anders Gewissheit verschaffen. Er spürte die kalte Brust seines Bruders, die ein Geheimnis barg, das Gabriel nur den Wenigsten anvertraut hatte, doch spätestens, wenn man den Toten entkleidete, um ihn zu verbrennen (welch grausame Ironie!), würde man es ja doch sehen und Gabriels größtes Geheimnis enthüllen: dass er sein Leben im Körper einer Frau hatte fristen müssen, obwohl es niemals ein tapfereres, männlicheres Herz als das seine gegeben hatte. Niemals hatte er sich unterkriegen lassen, trotz dieser zusätzlichen Bürde.

Raphael schniefte. Langsam streckte er die Hand aus, um über Gabriels kühle Wange zu streicheln und das verbliebene Auge zu schließen.

„Leb wohl, mein Bruder... pass auf dich auf, dort, wo du hingehst", flüsterte Raphael mit einem traurigen Lächeln. „Und grüße Michael von mir, damit er seinen kleinen Bruder nicht vergisst..."


LUCIFER - The Fallen AngelWhere stories live. Discover now