Kapitel 22

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Kapitel 22

„Theliel!"

Bevor sein jüngerer Bruder auch nur daran denken konnte, zurückzuweichen, hatte Cadmiel ihn umarmt und zu sich gezogen.

„Geht es dir gut?", fragte er besorgt und sah Theliel besorgt an. Die Flügel des jungen Engels zitterten leicht, was Cadmiel etwas beunruhigte, doch zumindest körperlich schien sein Bruder unbeschadet zu sein. Aber wer konnte schon wissen, wie diese Bestien in der Hölle mit ihm umgesprungen waren?

„Mir fehlt nichts", versicherte Theliel und umarmte seinen Bruder zurück. Cadmiel nickte Midael, der ihn aus der Hölle begleitet hatte, dankbar zu. Im Augenblick kümmerte ihn die Auseinandersetzung vor Gericht nicht. Er war einfach nur glücklich, seinen Bruder unverletzt wiederzusehen.

Midael neigte den Kopf, dann drehte er sich um und ging wortlos.

Cadmiel bugsierte Theliel in seine Wohnung und in die Küche. Während Cadmiel ihnen Tee kochte, sah Theliel sich in der eigentlich vertrauten Umgebung um, als sehe er sie heute zum ersten Mal. Er schien abwesend, in seine eigenen Gedanken versunken, doch er wirkte nicht, als seien es grausame Erinnerungen.

„Ist wirklich alles klar bei dir?", hakte Cadmiel nach und reichte ihm eine dampfende Tasse, die Theliel dankbar entgegennahm, ohne zu antworten. Schließlich seufzte er und nickte leicht.

„Was... was man sich im Himmel über die Dämonen erzählt..." Er seufzte erneut, ein schweres, unglückliches Seufzen, das in Cadmiel den Wunsch weckte, ihn wieder in den Arm zu nehmen und vor allem Unheil der Welt zu schützen. „...es sind Lügen. Zumindest einige."

„Lügen?" Verwirrt setzte sich Cadmiel neben seinen Bruder an den Esstisch und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Du weißt doch, was man uns hier über Lucifer und die Dämonen klarmachen will", fuhr Theliel fort. „Dass sie grausam und rücksichtslos sind und keine Gnade zeigen."

Cadmiel gefiel nicht, in welche Richtung dieses Gespräch lief, doch er wagte auch nicht, seinen Bruder zu unterbrechen. Vielleicht bekam er keine weitere Gelegenheit, mit ihm über die Geschehnisse in der Hölle zu sprechen, sobald Theliel sich wieder in den himmlischen Alltag eingefunden hatte.

„Aber... das stimmt nicht. Ich bin... einigen gefallenen Engeln begegnet, die unter Dämonen leben. Und... abgesehen von einem... waren sie wirklich anständig. Belial und... Leviathan auch und... Lucifer..."

Sein Tonfall war ein wenig verträumt, was Cadmiel nur noch mehr in Unruhe versetzte.

„Du sprichst in Rätseln", meinte er angespannt und fixierte seinen Bruder ernst. Dieser schien die besorgten Blicke gar nicht zu bemerken.

„Er ist nicht so, wie man es uns weißmachen will. Eigentlich... ist Lucifer total nett. Er... hat auf mich aufgepasst und sich um mich gekümmert. Ich wüsste nicht... weshalb ich noch länger einen so schlechten Eindruck von ihm haben sollte."

Fassungslos starrte Cadmiel ihn an. Was war mit seinem Bruder passiert? Er verhielt sich ja beinahe, als hätte man ihm einer Gehirnwäsche unterzogen.

„Lucifer ist ein Dämon. Der König der Hölle. Er würde alle Engel ohne mit der Wimper zu zucken abschlachten, wenn er könnte!", entgegnete er heftig. „Er hat den größten Verrat aller Zeiten begangen und sich gegen den Herrn gestellt!"

„Wenn er die Engel lediglich abschlachten will, warum lebe ich dann noch?", gab Theliel giftig zurück und nippte an seinem Tee, nur um sich daran die Zunge zu verbrennen.

„Theliel, du solltest hören, was du redest!"

„Du hast ein völlig falsches Bild von dem, was da unten vor sich geht!" Sein Bruder klang beinahe verzweifelt. „Du kennst ihn nicht, du bist ihm niemals begegnet!"

Cadmiel wollte grade anmerken, dass er dem König der Hölle sehr wohl schon einmal über den Weg gelaufen war und dass diese Begegnung in einer kompletten Demütigung geendet hatte, als Theliel ihm auch schon zuvor kam.

„Wir haben so viel miteinander geredet und wir haben miteinander geschlafen. Ich habe seine Narben gesehen und die Geschichten dazu gehört. Cadmiel, Lucifer ist kein schlechter Mann...!"

Bei jedem Wort aus dem Mund seines Bruders wurde Cadmiel ungläubiger. Nein, nein, nein, so weit konnte der Dämon Theliel doch nicht getrieben haben...!

„Hör auf damit!", fuhr er dazwischen und sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte. „Was soll das, Theliel? Bist du verliebt? Ist es das, was du mir sagen willst?"

„Nein!", antwortete Theliel sofort und wandte den Blick ab, als Cadmiel ihn anfunkelte. „Nein, so ist es nicht!"

Cadmiel hielt es nicht mehr aus. Er floh aus dem Raum, um seinen Bruder nicht anschreien zu müssen. Er konnte nicht mehr. Nach all der Sorge um Theliel waren diese Antworten niederschmetternd. Er wollte nichts mehr hören.

Gabriel hatte damit gerechnet, dass es Konsequenzen haben würde, Belial gefangen zu nehmen, doch als die gewaltige, dunkle Präsenz des Höllenkönigs und gefallenen Engels Lucifer über den Himmel hereinbrach, traf es ihn doch unvorbereitet. Der Himmel verdunkelte sich wie in einer apokalyptischen Prophezeiung durch schwarze Schwaden. Natürlich war es lediglich Effekthascherei, aber sie verfehlte ihren Zweck durchaus nicht. Gabriel hastete zum Stadttor, wo sich ein Tumult erhoben hatte.

Schaulustige Engel liefen und lärmten durcheinander, die Köpfe in den Nacken gelegt, den Blick in den dunklen Himmel gerichtet. Lucifer wollte Panik verbreiten und er verfolgte ein bestimmtes Ziel, das war dem Erzengel klar.

Mühsam bahnte er sich den Weg zum Tor, erklomm mit wenigen Flügelschlägen die Wehrmauer und ließ seinen Blick über die Ländereien des Himmels schweifen. Über die nun im Schatten liegenden Wolkenfelder hatte sich dunkler Rauch ausgebreitet. Mitten aus dem für das Auge undurchdringlichen Schwarz zeichneten sich plötzlich ein feuriges Licht ab.

Auf den inzwischen überfüllten Wehrgängen drängten sich neugierige, aber auch verängstigte Engel, alle Blicke waren auf den Reiter gerichtet, der majestätisch über die Ebenen preschte. Aus den Hufen seines hochbeinigen Pferdes sprühten Funken und auch in den leeren Augenhöhlen brannte ein dunkles, bedrohliches Feuer, sodass es eine flammende Spur hinter sich herzog, während es sich dem Tor näherte. Doch noch viel bedrohlicher war sein Reiter.

Lucifer trug eine silberne Rüstung mit verschlungenen, schwarzen Gravierungen, vermutlich altdämonische Runen, die Schutz und Kraft spenden sollten. Aus dem Helm, der lediglich die roten Augen frei ließ, ragten schwarze, gewundene Hörner, wie sie den alten, mächtigen Dämonen zueigen waren. Die Rüstung ließ Lucifer größer erscheinen, als er eigentlich war, und die Flammen spiegelten sich in der glänzenden Oberfläche.

Der Höllenkönig zügelte sein Pferd wenige Meter vom Stadttor entfernt, wo ein Feuerkranz aus dem Boden schlug. Panik breitete sich auf der Wehrmauer aus, die ersten Engel flohen, andere drängten sich in die vorderste Reihe.

Gabriel handelte ohne nachzudenken. Er schwang sich über die Mauer und segelte zu Boden. Mit gezogenem Schwert stellte er sich Lucifer entgegen, der ihn mit loderndem Hass betrachtete. Von Nahem konnte der Erzengel erkennen, dass auch das Pferd ein nachtschwarzes Geschirr trug, in das hellgraue Symbole eingelassen waren.

„Lucifer!", stieß Gabriel wütend hervor. Bisher hatte er die Launen des Höllenkönigs kommentarlos hingenommen, doch diese direkte Provokation konnte er nicht einfach ignorieren. „Was ist hier los?"

„Was hier los ist?", spottete Lucifer. „Die Hölle erklärt dem Himmel den Krieg, das ist los!"


LUCIFER - The Fallen AngelWhere stories live. Discover now