Kapitel 14

11.5K 678 99
                                    

Kapitel 14

Theliel hatte den Tag über nicht mit Lucifer oder irgendjemand anderem gesprochen. Am Abend fand er einen edlen, dunklen Anzug in seinem Zimmer vor, zweifellos für den kommenden Ball, aber der junge Engel hatte nicht vor, dann noch hier zu sein. Bisher hatte er das Verlangen nach Blut und Seelen erfolgreich unterdrückt, aber er wusste selbst, dass es schon bald übermächtig werden würde. Und dann gab es keine Chance mehr für ihn, in den Himmel zurückzukehren.

Er wartete, bis der Großteil der Bewohner des Palastes sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte, bevor er aus seinem Zimmer und durch die Flure zum Ostflügel schlich. Der einzige Weg nach draußen, der nicht bewacht wurde, war Lucifers Balkon. Da Dämonen nicht fliegen konnten, würde er notgedrungen über den Luftweg entkommen, um gar nicht erst eine Konfrontation mit Wachposten zu konfrontieren.

Im ganzen Palast war es still, doch als Theliel sich dem Zimmer des Höllenkönigs näherte, spürte er die aufsteigende Nervosität. Was, wenn Lucifer sich grade in seinem Zimmer aufhielt? Würde er ihn einfach ziehen lassen? Vermutlich nicht, schließlich konnte er im Falle einer Verhandlung mit dem Himmel zu einem bedeutenden Druckmittel werden. Außerdem hatte der Höllenkönig auch ihm gegenüber deutlich gemacht, dass er ihn nicht gehenlassen würde.

Mit angehaltenem Atem lauschte Theliel an der Tür und spähte durch das Schlüsselloch ins Innere. Einige Kerzen brannten, doch von Lucifer war nichts zu sehen. Vorsichtig legte er eine Hand an die Klinke. Sollte er es wagen, einzutreten? Bisher hatte Lucifer keinerlei Anstalten gemacht, ihm das anzutun, was Azazel hatte tun wollen, aber strapazierte er möglicherweise die Geduld des gefallenen Engels, wenn er einfach in dessen Zimmer eindrang?

Die schweren Schritte einer Wache am Ende des dunklen Flurs nahmen Theliel die Entscheidung ab. Leise drückte er die Klinke runter und huschte ins Zimmer. Es war leer, nur aus dem angrenzenden Bad erklang das Rauschen der Dusche. Umso besser.

Die Glastüre zum Balkon stand offen, die orangefarbenen Vorhänge flatterten leicht im lauen Nachtwind. In der Hölle schien es niemals wirklich kalt zu werden, was vermutlich den Lavaströmen zu verdanken war, die das Land durchzogen. Theliel schlich zur Tür und schielte nach draußen. Der Palast war von einer Mauer umgeben, auf der in der Dunkelheit vereinzelte Fackeln glommen. Mit etwas Glück konnte er ungesehen über die Wachen hinwegfliegen, sodass sein Verschwinden erst am Morgen bemerkt werden würde.

Noch immer war das Rauschen der Dusche zu hören. Theliel biss sich auf die Lippe; jetzt oder nie!

Er trat hinaus auf den Balkon und achtete darauf, dass seine Silhouette, die sich dank der Flügel eindeutig von Lucifers unterschied, nicht gegen das Licht zu sehen war. In der Dunkelheit der Wehrmauer konnte er keine Wachen ausmachen, aber er ahnte, dass Lucifer seinen Palast auch bei Nacht nicht unbewacht lassen würde.

Angespannt kletterte er auf das breite Geländer des Balkons und breitete die Flügel aus. Es tat gut, endlich wieder den frischen Wind zwischen den Federn spüren zu können und Theliel atmete tief durch. Dann ging er in die Knie und sprang so hoch und weiter, wie er konnte. Eine Sekunde lang verspürte er das atemberaubende Gefühl des Fallens, dann schwang er sich mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen wieder hinauf in den Himmel – oder was auch immer die Hölle nach oben abgrenzte.

Er ließ sich auf einem leichten Aufwind, der von dem nächsten Lavastrom herüberwehte, tragen, während er sich orientierte. Die rot glühenden Flüsse aus geschmolzenem Gestein boten einen groben Überblick über die Landschaft, reichten jedoch bei Weitem nicht aus, um die Finsternis zu vertreiben. Vermutlich war es am besten, wenn er dem nächsten Strom so weit folgte, bis es heller wurde. Er hatte eigentlich gedacht, dass die Lichtverhältnisse in der Hölle konstant wären, da es keine Sonne zu geben schien, doch nachts wurde es allem Anschein nach trotzdem sehr finster.

LUCIFER - The Fallen AngelWhere stories live. Discover now