Kapitel 10

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Kapitel 10

Nathanael schreckte hoch und lauschte mit wild schlagendem Herzen in die Stille. Die Kerze auf dem Wohnzimmertisch war erloschen, doch eine kleine Rauchfahne stieg noch daraus empor, als wäre sie grade erst gelöscht worden. Nathanael realisierte, dass er während einer besonders langweiligen Talkshow auf dem Sofa eingeschlafen sein musste. Der Fernseher zeigte nur Schneegestöber.

Leise erhob sich Nathanael auf die Füße und sah sich um. Etwas oder jemand war eingedrungen und versuchte nun, ihm Angst einzujagen, das merkte er sofort. Langsam und bemüht, nicht zu viele Geräusche zu machen, tappte Nathanael in die Küche. Unbewaffnet wollte er dem Eindringling nicht gegenübertreten.

Seine Finger hatten sich grade um den Holzgriff des Küchenmessers geschlossen, als er vor sich in der Dunkelheit der Küche zwei rote, glühende Punkte bemerkte. Er starrte sie an und sie starrten regungslos, ohne zu blinzeln zurück.

„Nathanael", zischte eine dunkle Stimme und ein kleines, bläuliches Licht flammte auf. Die Flamme schien über der Fingerspitze des Dämons zu schweben, der nun von der Arbeitsplatte sprang, auf der er gesessen und gewartet hatte.

„Wie bist du vom Himmel gefallen, oh Lucifer, Sohn des Morgens...", hauchte Nathanael und lächelte leicht. „Wie bist du zur Erde gefallen, du, der du die Heiden schwächst. Gedachtest du noch im Herzen: 'Ich will in den Himmel steigen und meinen Sitz über die Sterne und Gott erheben; ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung in der fernen Mitternacht; ich will über die höchsten Wolken fahren und gleich sein dem Höchsten.'"

„Ja, zur Hölle fährst du, zur tiefsten Grube", beendete Lucifer gereizt die Rezitation aus der Bibel. „Hör auf, mich zu verspotten!"

Nathanael schüttelte seufzend den Kopf.

„Die Menschen haben deine Absichten verkannt, nicht wahr? Du wolltest niemals Gott, deinen Herrn, übertreffen, sondern Frieden und Gleichheit über den Himmel bringen."

Die Flamme beleuchtete kaum das Gesicht des Höllenkönigs, doch Nathanael sah deutlich dessen unverhohlenen Hass auf den Himmel darin.

„Das ist Vergangenheit!", knurrte Lucifer und die Flamme auf seiner Fingerspitze flackerte leicht.

„Was kann ich dann für dich tun?", wollte Nathanael ohne die geringste Angst wissen. Vor einem Dämon hätte er sich fürchten müssen, denn dessen Absichten wären unklar gewesen; doch Lucifer kannte er aus der Zeit, bevor dieser in die Hölle verbannt worden war, und auch seine Intentionen waren eindeutig.

„Du warst der Wächter des Himmlischen Feuers", sagte der Höllenkönig tatsächlich in diesem Moment. „Du weißt, wo es zu finden ist und wie man es bändigen kann."

Nathanael seufzte leise.

„Ja, ich weiß, wo es zu finden ist, aber ich habe es niemals geschafft, es zu kontrollieren. Der Versuch hat mich meine Flügel und beinahe mein Leben gekostet. Ich kann dir nur davon abraten, das Feuer zu beherrschen zu versuchen, Morgenstern."

„Meine Flügel wurden mir schon vor langer Zeit genommen und auf mein Leben gebe ich nichts. Was habe ich also zu verlieren?", kam die Antwort.

„Alles, Morgenstern, alles", murmelte Nathanael und beobachtete müde, wie sich Verwirrung auf Lucifers Gesicht abzeichnete. „Das Himmlische Feuer ist keine Waffe. Ich weiß nicht, wofür es existiert, aber es ist nicht dafür gedacht zu töten. Ich bitte dich, nicht weiter mit dem Gedanken zu spielen, es gegen den Himmel einzusetzen."

Ein Tritt vor die Schienbeine ließ den Engel einknicken und ein weiterer Schlag gegen die Schläfe brachte ihn schließlich zu Boden. Rot glühende Augen erhoben sich über ihm in der Dunkelheit. Die Flamme war verloschen.

LUCIFER - The Fallen AngelOù les histoires vivent. Découvrez maintenant