Kapitel 9

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Kapitel 9

Im Hinterhof des Tempels war der sonst allgegenwärtige Lärm geschäftiger Engel, die fleißig ihren Aufgaben nachgingen, kaum zu hören. Unter anderen Umständen hätte Gabriel diesen Hof vielleicht als Rückzugsort zu schätzen gelernt. Doch normalerweise überfiel ihn Trauer oder im besten Falle Nostalgie, wenn er hierher kam, stets mit einem Strauß der schönsten Blumen, die er hatte finden können und die er auf das Grab seines jüngeren Bruders Michael legen konnte.

Ein schlichter Grabstein aus weißem Marmor, auf dem neben einer Feder noch ein einzelner Satz graviert war.

Mors certa, hora incerta – Der Tod ist gewiss, nur die Stunde ist ungewiss.

Die Grabplatte war von den Blumen, die Gabriel und sein Bruder Raphael, der Heiler, auf dem Grab gepflanzt hatten, eingerahmt.

'Dem edelsten aller Erzengel, der sein Volk bis in den Tod zu beschützen suchte', lautete die Inschrift auf der Grabplatte, die ein leeres Grab bedeckte. Es war nicht üblich, Engeln ein Grab zu errichten, viele bekamen lediglich Gedenksteine, da der Himmel sonst nicht genug Platz für all die Friedhöfe geboten hätte. Nach dem Tod wurde der Leichnam eines Engels verbrannt und seine Asche in der Morgendämmerung verstreut, damit er für immer fliegen konnte.

„Michael...", hauchte Gabriel und schloss die Augen. Seine beiden jüngeren Brüder Raphael und Michael waren sein Leben. Als Michael gestorben war, hatte es Gabriel in tiefe Depressionen gestürzt, die er bis heute nicht gänzlich überwunden hatte. Die Unsterblichkeit konnte ein Fluch sein.

Nach seinem Tod hatte Gott ihn zum Volkshelden erhoben und noch immer kannte jeder die Geschichte, wie Michael Lucifer nach hartem Kampf um den Himmel zurück in die Hölle gestoßen hatte. Was dagegen kaum jemand wusste: Michael und Lucifer waren ein Paar gewesen.

Aufgrund ihrer Rangunterschiede hatten sie es geheim halten müssen, doch vor seinen Brüdern war Michael ganz offen damit umgegangen, was nicht hieß, dass Gabriel es gutgeheißen hatte. Er erinnerte sich gut daran, wie schwer es Michael getroffen hatte, als Lucifer wenige Monate nach seiner Verbannung in die Hölle für tot erklärt worden war. Dennoch war Michael dem gefallenen Engel nicht in den Krieg gegen den Himmel gefolgt, als dieser dazu aufgerufen hatte.

Ein Geräusch riss Gabriel aus seinen Gedanken und er sah sich überrascht um, als er Raphaels Stimme seinen Namen rufen hörte. Im Gegensatz zu Gabriel selbst, der beständig seine Fähigkeiten im Kampf und seinen Körper trainierte, war Raphael von eher schmächtiger Statur, mit kleinen, zierlichen Händen, dafür aber einem großen Herz und einer sanftmütigen Art, die ihn sofort sympathisch machte. Genau wie Michael damals trug er die goldblonden Locken schulterlang.

„Du warst lange nicht hier", stellte Raphael leise fest und sah zum ältesten Bruder auf, der traurig lächelte.

„Es ist schmerzhaft, sein Grab zu sehen und zu wissen, weshalb er sein Leben lassen musste", antwortete Gabriel ruhig und las erneut die Inschrift der Grabplatte. „Er hätte nicht sterben müssen, wenn..."

„Aber er ist gestorben", unterbrach Raphael ihn und nahm Gabriels Hand. „Ohne ihn wäre der Himmel untergegangen. Sein Opfer war notwendig."

Der ältere Erzengel schloss erneut die Augen und ein tiefer Seufzer entkam ihm.

„Du hast ja recht. Schließlich... war Michael der einzige... den Lucifer niemals hätte töten können..."

„Warum quälst du dich noch immer mit alten Erinnerungen?" Belial setzte sich seinem besten Freund gegenüber auf einen der gemütlichen Sessel und sah zum Fenster in die Nacht hinaus. In seinen schmalen, dünnen Fingern hielt Lucifer eine einzelne, reinweiße Feder und zu seinen Füßen lagen zwei Kurzschwerter, die Belial nur zu gut kannte. Eines hatte Lucifer in der Schlacht geführt, das andere war Michaels gewesen.

„Wer hat es denn für nötig gehalten, diesem undankbaren, kleinen Engel meine halbe Lebensgeschichte zu erzählen", blaffte Lucifer zurück und verschränkte trotzig die Arme, den Blick nach draußen gerichtet. Im Zimmer war es absolut dunkel, sodass Belial das Gesicht seines Freundes nicht erkennen konnte.

„Aber willst du denn nicht sein Vertrauen zu dir wiederherstellen?"

„Vertrauen?" Der Höllenkönig knurrte. „Welches Vertrauen? Er hat mir niemals vertraut, selbst bevor ich mich zu erkennen geben musste! Kein Engel sollte jemals einem Dämon vertrauen."

Belial seufzte leise.

„Machst du dir da nicht selbst etwas vor? Du bist sein Vertrauen durchaus wert, Lu, also mach dich nicht selber fertig."

Ein undeutliches Knurren kam als Antwort und Belial unterdrückte ein Schmunzeln. Lucifer war wirklich ein Sturkopf, aber ein Sturkopf mit gutem Herzen und dafür schätzte Belial ihn.

„Der Kleine hat schreckliche Angst seit dem Vorfall mit Azazel und anstatt langsam zu versuchen, ihm zu zeigen, dass du ihn niemals verletzen würdest, meidest du ihn und schmollst", brachte er die Sache auf den Punkt. Natürlich antwortete Lucifer nicht.

„Warum behandelst du ihn überhaupt so gut, anstatt ihn einfach zu töten, wie du es bisher immer gemacht hast?", fragte Belial weiter.

Diesmal überlegte Lucifer tatsächlich, weiterhin ohne seinen besten Freund anzusehen.

„Ich... Theliel... er erinnert mich manchmal an Michael", gab er schließlich zu. „Ich weiß, dass das dumm ist, aber die Art, wie er spricht und denkt..."

Er brach ab und schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass Belial seine Worte nicht weiter aufgreifen sollte. Wie immer ignorierte Belial dieses Zeichen.

„Ich sage doch, du quälst dich", meinte er sanft. „Michael ist tot."

„Ich weiß."

„Es wird ihn weder wieder lebendig machen, noch deine Schuld sühnen, wenn du ständig um ihn trauerst."

„Ich weiß."

„Ich bin mir sicher, dass er das nicht gewollt hätte, dass dich sein Tod noch immer so belastet, Lu."

„Ich weiß."

„Du solltest ihn langsam hinter dir lassen und dir jemand neues suchen."

„Ich weiß."

Belial seufzte. Ob Lucifer ihm überhaupt zuhörte oder einfach ins Blaue hinein antwortete?

„Idiot."

Endlich wandte Lucifer den Kopf zu ihm und sah ihm in die Augen. Ein verschmitztes Grinsen trat auf sein Gesicht.

„Ich weiß."

Nach Lucifers plötzlichem Hereinplatzen war Belial ihm sofort gefolgt, sodass Theliel alleine im Zimmer zurückgeblieben war. Lange Zeit hatte er einfach auf dem Bett gesessen und über das nachgedacht, was er soeben erfahren hatte. Schließlich war er über seine Überlegungen eingeschlafen und als er aufwachte, stand ein Teller mit abgekühltem Abendessen neben seinem Bett. Nach der Mahlzeit fühlte er sich direkt besser.

Was sollte er jetzt tun? Von Lucifers Wohlwollen hing immerhin sein Leben ab und bei ihrer letzten Begegnung hatte man ihm sein Misstrauen und seine Angst deutlich angemerkt. Belial hatte selbst gesagt, wie jähzornig der Höllenkönig sein konnte, und Theliel wollte ihn nicht bis zum Äußersten reizen, indem er weiterhin versuchte, vor ihm zu flüchten. Außerdem gäbe es sonst niemanden mehr, der ihn vor Azazels Rache bewahren konnte.

Die Motive mochten eigennützig sein, doch Theliel war fest entschlossen, sich diesmal nicht von Vorurteilen täuschen zu lassen, sondern in Lucifer auch Lucian zu sehen, mit dem er sich schließlich gut verstanden hatte. Er zog sich um, dann begann er, im Raum auf und ab zu laufen, während er wartete.

Vielleicht sollte er einfach gegen die Türe treten, bis jemand kam? Aber man würde seiner Bitte, mit dem König persönlich zu sprechen, vermutlich nicht nachgehen. Theliels Blick wanderte zur Türe. Nein, das war eine dumme Idee.

Sein Zeh stieß gegen etwas hartes und mit einem unterdrückten Fluch sprang er zurück. Auf dem Boden lag das aufgeschlagene Buch, das Lucian - nein, Lucifer – ihm hatte bringen lassen, Wolkenfall.

Langsam hob er es auf, strich über das Papier und setzte sich schließlich wieder aufs Bett. Wenn er schon warten musste, wann Lucifer ihn zu sprechen wünschte, dann konnte er genauso gut lesend warten.

LUCIFER - The Fallen AngelWhere stories live. Discover now