Kapitel 21

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Kapitel 21

„Zieh dich an!"

Theliel schreckte aus dem Schlaf hoch, als Lucifer die Decke wegzog und ihn mit seiner kühlen Aufforderung bedachte. Verwirrt sah der Engel sich um, bemerkte jedoch erst nach einigen Sekunden, dass Azazel grinsend in der Türe stand. Theliels Blick wanderte erschrocken wieder zu Lucifer, der grade seine Weste anzog.

Was ging hier vor? Lucifer würde ihn nicht wieder Azazels Willkür aussetzen, oder? Nein, er hatte doch versprochen, dass er sich nie wieder vor Azazel zu fürchten bräuchte...!

„Lucifer", murmelte er, ohne auf den dunklen Engel, der noch immer im Türrahmen lauerte, zu achten. „Was geht hier vor?"

Die Panik musste deutlich in seiner Stimme zu hören gewesen sein, denn nun drehte Lucifer sich um und warf ihm einen fast bedauernden Blick zu. Hastig zog Theliel die Decke wieder über seinen nackten Körper.

„Kein Grund zur Panik. Der Himmel hat jemanden geschickt, um dich auszulösen", erklärte er kalt und Theliel merkte, wie er die Hände zu Fäusten ballte. „Du bist noch immer eine Geisel."

Wie betäubt fing Theliel die Sachen auf, die Lucifer ihm zuwarf. Dann verließ der Höllenkönig den Raum, ohne sich weiter um den völlig verwirrten Engel in seinem Bett zu kümmern. Ihn auslösen? Was sollte das bedeuten?

„Du wirst gegen eine andere Geisel ausgetauscht", erklärte Azazel in diesem Moment, als hätte er Theliels Gedanken gelesen. „Der Himmel hat Belial in seine Gewalt bekommen. Und Lucifer würde alles tun, um seinen besten Freund zu beschützen." Das gemeine Grinsen hatte Azazels Gesicht nicht verlassen, als freue er sich darüber, dass Belial in Gefahr war.

Theliel antwortete vorsichtshalber nicht. Hastig zog er sich an, strich die saubere Tunika, die man ihm überlassen hatte, glatt und ließ sich von Azazel, der ihn die ganze Zeit über mit gierigen Blicken beobachtet hatte, aus dem Schlafzimmer und hinunter in den Thronsaal führen.

Schon beim Eintreten wäre Theliel am liebsten rückwärts wieder hinaus gelaufen. Eine dunkle Woge schlug ihm entgegen und es gab keinen Zweifel, welchen Ursprung sie hatte: Lucifer stand zwei Engeln gegenüber, die beide größer waren als der Höllenkönig, der wohl auf seine hohen Schuhe verzichtet hatte. Dafür wurde er von düsteren Schwaden umweht, die aussahen wie schwarzer Rauch, jedoch weniger stofflich zu sein schienen. Er schien Mühe zu haben, sich angesichts seiner beiden „Besucher" zu beherrschen.

„Steh da nicht dumm rum!", blaffte Azazel und zog Theliel am Arm mit sich. Beim Näherkommen bemerkte der junge Engel schließlich die vertraute Gestalt, die am Boden kniete. Eine kleine Blutlache breitete sich um den schrecklich zugerichtet aussehenden Belial aus, der den Kopf stur gesenkt hielt und keinen Laut von sich gab. Seine Haare klebten vor Blut und sein linker Arm hing kraftlos herab, während er den rechten um den Körper geschlungen hatte. Flankiert wurde der gefangene Dämon von Heerführer Midael und einem beinahe legendären Engel, dem Theliel bisher niemals persönlich begegnet war.

„Endlich", sagte der Erzengel Gabriel ruhig, als er Theliels Anwesenheit registrierte.

„Wie's aussieht, behandle selbst ich meine Gefangenen besser als ihr!", knurrte Lucifer und seine roten Augen verengten sich zu Schlitzen. „Für das, was ihr Belial angetan habt, werdet ihr in den Flammen der Hölle brennen!"

Seine Stimme war nicht laut, nicht einmal besonders drohend. Nein, Lucifer klang, als erläutere er nüchterne Tatsachen. Gabriel ließ sich nicht einschüchtern. Midael hielt sich zurück, doch auch auf seinem Gesicht war keinerlei offene Furcht zu erkennen.

Unsicher sah Theliel zu Belial, der ein leises Wimmern ausstieß, als Gabriel ihn unsanft auf die Füße zog. Lucifer knurrte gefährlich und der schwarze Nebel, der ihn umgab, schlängelte sich nun über den Boden, doch als er sich Gabriel näherte, schien er auf eine unsichtbare Wand zu treffen, an der er sich in die Höhe schlängelte.

Azazel verpasste Theliel einen unsanften Stoß, sodass dieser auf die beiden Engel zu stolperte, die Belial nun ebenfalls gehen ließen. Der verletzte Dämon sank fast sofort zu Boden, doch Lucifer hatte bereits die Arme um ihn geschlungen und hielt ihn nun schützend.

„Ihr habt, was ihr wolltet!", brachte er voller Abscheu hervor. „Also verschwindet aus meinem Reich!"

In dieser Auseinandersetzung war er definitiv unterlegen gewesen. Weil er Belial nicht in Gefahr bringen wollte. Theliel schluckte, als er zu Gabriel aufsah, der den Höllenkönig kühl musterte. Der Erzengel hatte gewusst, wie wichtig Belial Lucifer war. Er hatte gewusst, dass Lucifer nicht das gefühllose Monster war, als das er im Himmel dargestellt wurde – warum hatte er niemals versucht, diesen Irrtum aufzuklären?

Midael legte ihm eine Hand auf die Schulter und Theliel fuhr unwillkürlich zusammen.

„Komm", sagte er ruhig. „Du hast genug erlebt."

Sie führten ihn aus dem Thronsaal, ihre Schritte hallten in der großen, leeren Halle wieder, gemischt mit Belials kaum hörbaren Schluchzen. Als sie die Türen erreichten, sah Theliel sich noch einmal nach Lucifer um, der regungslos in der Mitte des Saals stand und Belial schützend im Arm hielt. Für einen Moment wünschte Theliel, er hätte den König zum Abschied noch ein einziges Mal küssen können und sei es nur, um die Traurigkeit aus seinem Gesicht zu vertreiben.

Belial konnte sich kaum rühren. Sein Körper schmerzte, die Wunden brannten, seine gebrochenen Beine konnte er noch immer kaum spüren. Fiebrig schlug er die Augen auf und schielte ins verschwommene Dunkel. Jemand küsste ihn auf die Stirn, flüsterte seinen Namen, streichelte ihm durchs Haar.

„...Lu?", hauchte er kraftlos.

„Ich bin hier", kam die Antwort. „Was haben sie dir angetan?"

„Ich..." Belials Kopf kippte zur Seite und er rang nach Luft. „Sie wollten... mich unterkriegen... damit ich mich gegen dich wende..." Ein leises Schluchzen entkam ihm, halb vor Schmerz, halb vor Erschöpfung.

„Als ich mich weigerte... und... mich gewehrt habe... haben... haben sie..."

Er hatte keine Kraft mehr, um seine Erinnerungen geordnet wiederzugeben.

„Sie haben dich zusammengeschlagen", vermutete Lucifer leise. Belial nickte mühsam. Gewalttätigkeit gegenüber gefangenen Dämonen war keine Seltenheit. In diesem Punkt waren die Engel auch nicht besser als die Bewohner der Hölle.

„Es tut mir leid", schluchzte Belial und sein Körper zuckte unkontrolliert.

„Shhh, schon gut", hauchte Lucifer, während er ihn behutsam streichelte und ihn erneut auf die Stirn küsste.

„Es tut mir leid, es tut mir leid", wimmerte der verletzte Dämon immer wieder, ließ sich kaum beruhigen.

Er spürte, wie eine Decke bis zu seinem Kinn gezogen wurde, und blinzelte müde. Ein kleines Lächeln erschien auf seine Lippen, das jedoch sofort verblasste, als er die drohende Präsenz spürte, die seinen besten Freund umgab.

„Keine Sorge", murmelte Lucifer, ohne ihn loszulassen. „Dafür werden sie büßen!"


LUCIFER - The Fallen AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt