Ich hasste es, die Neue zu sein. Jetzt die Heilige zu spielen wäre sinnlos, ich wusste genau, wie berechnend und verurteilend wir alle sein konnten, und bei neuen Leuten lief es immer gleich ab. Zunächst war man Objekt der Interessen und Begierden, bis zu dem Zeitpunkt, an dem man einen Fehler beging oder sich herausstellte, dass man nur ein weiterer, langweiliger Mensch war, der die Aufmerksamkeit nicht wert war – doch die kursierenden Gerüchte hatten den Ruf dann bereits ruiniert.

Wir alle sind grausam, wir alle verurteilen, und deshalb war ich lieber die graue Maus als gebrandmarkt durch böse Zungen.

Auch wenn das in diesem Fall wohl schwer werden würde.

Ich holte tief Luft und klopfte gar nicht erst, sondern glitt lautlos in den Raum, doch beim Schließen der Tür ertönte ein lautes, hohes Quietschen.

Das durchdringende Geräusch durchschnitt die Luft und hinterließ nichts als Stille.

Fünfundzwanzig Augenpaare richteten sich auf mich.

Verdammte Scheiße.

Der Drang, wieder rückwärts hinaus in den Flur zu weichen durchflutete mich und stieg hitzig meine Wangen hoch, die nun fieberhaft glühten. Am liebsten wäre ich vor Scham augenblicklich im Erdboden versunken.

„Guten Morgen", sagte ich stattdessen und ließ meinen Blick langsam und berechnend durch den Raum wandern, ohne mir die Unsicherheit anmerken zu lassen. Schwäche machte angreifbar, aber ich versuchte, das Gefühl zu verdrängen, als Schaf im Raubtierkäfig festzusitzen. „Tut mir leid für die Verspätung, ich bin Lilian-"

„Aber natürlich, die neue Schülerin!" Die junge Lehrerin, die ich mit meinem Auftritt dem Anschein nach komplett aus der Fassung gebracht hatte fand ihre Stimme wieder und lächelte mich nun herzlich an. „Ich hatte mich schon gewundert, wo du bleibst. Möchtest du dich deinen Klassenkameraden vielleicht kurz vorstellen?"

Nein, um ehrlich zu sein, nicht wirklich.

Die Aufmerksamkeit der gesamtem Klasse haftete immer noch auf mir, doch das Bild, das sich mir bot, war zunächst ein bekanntes. In der ersten Reihe die Streber, ganz hinten die Möchtegerndraufgänger, die nichts interessierte, und in der Mitte eine Mischung aus allem. Trotzdem blieb mein Blick länger als gewollt in der letzten Reihe haften, wie von einem Magneten angezogen wurde mein Fokus in diese Richtung gelenkt; und dieses Gefühl wuchs von Sekunde zu Sekunde an. Es war eine unbeschreibliche Emotion, die mich endlos irritierte, ich konnte mir absolut nicht erklären warum mein Verstand und mein Körper so reagierten.

Ich fühlte mich, als hätte ein Leben lang ein Teil von mir gefehlt, als wäre ich immer unvollkommen gewesen, und in genau diesem Raum wäre das fehlende Puzzlestück.

Es war unbegreiflich.

„Mein Name ist Lillian Bennet und ich komme aus London", meinte ich abwesend, von einer unsichtbaren Kraft in den Bann gezogen. „Ich ... ich glaube, über mich gibt es nicht viel zu erzählen." Etwas in meinem Wahrnehmungsradius warf mich so aus der Bahn, dass ich unmöglich in der Lage war, noch etwas hinzuzufügen, mit ausgetrockneter Kehle suchte ich starr nach Worten.

Es war seltsam, dass ich nicht bei klaren Sinnen war, tatsächlich kam es mir vor, als wäre ich wie benebelt. Was passierte hier, dass ich mental so aus dem Gleichgewicht geworfen wurde, fast so wie jemand, der unter Drogen nicht klar denken konnte?

„Na, dann setz dich mal hin." Die junge Lehrerin deutete mit einem ermutigendem Nicken auf den einzigen freien Platz in der dritten Reihe. „Ich bin Mrs Glenn, deine neue Kursleiterin. Bei Fragen kannst du dich jederzeit an mich wenden, und ich bin mir sicher, dass deine Klassenkameraden dir helfen werden, dich hier gut einzufinden."

Mate - AeternitasWhere stories live. Discover now