Ying und Yang

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Ruhe herrschte im Raum.
Ich saß ganz nah an Tessa, hielt sie im Arm und versuchte sie wortlos zu trösten, aber jeder stand unter Schock. Wegen Leyla.
Die Uhr tickte langsam weiter, draußen sangen Vögel ruhige Lieder, der Wind pfiff angenehm gegen das Fenster und ab und an hörte man draußen im Flur leise Schritte.
Wenn ich die Augen schloss, hatte ich immer noch diese schlimmen Bilder im Kopf. Leyla, beinahe tot im Gras, Selbstmordversuch, in Lebensgefahr, Blut, Beleidigungen, Einsamkeit, Ohnmacht.
Ich schüttelte mich aus Reflex und Tessa schaute mich erschöpft an. Ihr war der Schock und die Sorge ins Gesicht geschrieben.
Ich umarmte sie und da schaute uns Samira an. Wir hatten uns alle versammelt, 30 Mädchen aus der Klinik, alle geschockt und man sagte uns:
,,Ja, macht mal etwas Yoga mit Samira. Es hilft!"
Ausgerechnet das sagte die Leiterin der Klinik. Von wegen Therapie. Es half keinem. Niemand konnte sich entspannen. Ab morgen gab es sowieso keine Therapie mehr für mich - denn ich war frei. Psychisch stabil.
Mehr oder weniger?
Wenigstens konnte ich dann abnehmen und auf die 35 Kilogramm. Und immer weiter. Immer mehr. Ich wollte es jedem zeigen. Ich war nicht nutzlos.
Tessa stand plötzlich auf und ich war wieder da. Mitten im Leben.
,,Wohin gehst du?", flüsterte ich und bemerkte, dass Samira uns komisch ansah.
,,Essen.", sagte sie mit fester Stimme und da öffneten alle Meditierenden ihre Augen und starrten Tessa an.
Samira lächelte sie an und zwinkerte mir zu.
,,Geht ruhig, nur zu."
Ich nahm Tessa an der Hand und zusammen verließen wir ohne zu Sprechen das Therapiezimmer.
,,Mein Magen knurrt so! Ich will was essen.", rief sie mir zu als wir in der Mensa waren. Das große Buffett wurde gerade aufgebaut und Tessa's Augen wurden so groß wie Suppenteller.
Das Essen glitzerte förmlich im Sonnenuntergang. Ich fing an zu zittern. Ich durfte nichts essen. Wollte doch runter mit dem Gewicht. Weg von hier.
Tessa warf mir eine Birne zu und ich fing sie gekonnt auf.
,,Ich habe keinen Hunger. Ich bin noch geschockt..", fing ich an und Tränen sammelten sich in meinen Augen.
Tatsächlich fragte ich mich, wie es um sie stand und wo sie gerade war.
Tessa stellte ihr Tablett ab und kam auf mich zu.
,,Es war ein langer und harter Tag für uns Beide. Du musst jetzt essen.", flüsterte sie und fing an ihr Brot mit Avocado zu bestreichen.
,,Willst du mal abbeißen?", sagte sie mit vollen Mund und in meinem Mund sammelte sich Wasser.
Hör auf damit! - sagte ich zu mir.
Wenn Leyla so gut ohne Essen auskam, konnte ich es besser.
Nein.
Sag nein.
Es tobte in mir drin. Ein lautes Wirrwarr zwischen Essen und Hungern.
,,Nein, danke.", Ich lächelte sie an und legte die Birne auf den Tisch.
Tessa rollte genervt mit den Augen und ihre kalte Hand traf meine Schulter.
,,Du weißt ja wie es ist wenn man hungert, oder? Daran ist nichts cool, gesund oder toll. Es macht dich kaputt. Jeden von uns.", sie klang sichtlich enttäuscht.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter und legte meinen Kopf in meine Hände. Ich schloss die Augen, zählte leise bis 20 und schon fühlte ich mich etwas besser. Oder es war Einbildung.
Tessa blickte stur geradeaus, in der einen Hand hielt sie die Gabel, sie kaute nicht weiter und war kurz davor loszuweinen.
Hektisch tippte ich sie an und nahm sie schluchzend in die Arme.
,,Es tut mir leid. Ich kann das nicht.", sagte sie weinerlich und rieb sich die Augen trocken. Ihr ganzer Kajal verwischte.
,,Soll ich dir einen Smoothie holen? Das magst du doch."
,,Bitte nicht mehr als 40kcal.", sagte sie weinerlich und schniefte ganz laut.
Ich nickte verständlich und ging zum Buffett.
Verstohlen blickte ich rüber zu Tessa. Sie guckte gerade nicht, also gut. Rasch griff ich nach der Banane. 93 kcal.
Sie musste einfach mehr essen. Sie musste kämpfen um hier rauszukommen.
Ich schälte sie gekonnt und schnitt sie stückchenweise mit dem Messer.
Fertig!
Ich griff nach der fettarmen Milch, aber das hatte Tessa nicht nötig. Sie war essgestört, aber fettarme Sachen waren für Diäten gedacht, nicht um Zuzunehmen und gesund zu sein!
Also goss ich schnell Milch ein mit 3,5% Fett und der Banane in den Mixer und kleckerte in voller Panik.
Nach 1 Minute ging ich wieder zu Tessa und überbrachte es ihr.
,,50 Kalorien.", log ich und strahlte.
Sie lächelte und schlürfte den Smoothie innerhalb Sekunden leer.
,,Der ist ja total gut geworden!", sagte sie laut und lächelte unter ihrem verwischten Kajal.
Ich lachte auf und zusammen gingen wir wieder durch den Flur hinauf in unsere Station, aber plötzlich lief uns Samira vor die Nasen.
,,Da seid ihr ja! Kommt mal in den Aufenthaltsraum."
Verwirrt folgten wir ihr und blieben am Türrahmen stehen. Der ganze Raum war abgedunkelt und irgendwas schimmerte auf den Tischen. War das Glitzer?
Bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, ging plötzlich das Licht an und unzählige Mädchen aus meiner Station kamen auf mich zugestürmt und umarmten mich - Tessa auch.
,,Wir wollten dir eine Party organisieren, da du morgen gehst!", sagte Valerie, eine Freundin von Leyla und lächelte mich unsicher an.
Ich gehe ja morgen, stimmt..Einerseits freut ich mich schon unheimlich darauf, abnehmen zu können, aber Tessa.
Ich blickte mich um und in den ganzen roten, grünen, gelben Partylichtern war Tessa nirgends zu sehen.
,,Wo ist Tessa?", krächzte ich kaum hörbar, doch niemand hörte mich mehr. Die Musik wurde aufgedreht und ich wurde mitten in die Menschenmasse gezogen. Dicht bedrängt von unzähligen Fassaden. Als ich versuchte zu entkommen, drückte mir Samira das Besteck in die Hand.
,,Wir haben dir eine kleine Torte gebacken in der Koch-Therapie!"
Mit offenen Mund nahm ich den Teller entgegen mit dem fetten Kuchenstück draufgeklatscht.
Ich lächelte leicht und setzte mich still an den Tisch zu den Anderen aus der Station. Da kam Valerie erneut und schob sich ein großes Stück von meinem Kuchen in den Mund. Mir wurde schlagartig heiß und das alles war mir zu viel hier!
Panisch stand ich auf und rannte einfach raus. Die Musik hämmerte immer noch in meinen Ohren und das Blut pulsierte in meinen Adern.
Ich rannte auf die Toilette, schloss ab und rutschte an der Wand schluchzend hinunter.
Ich hörte nichts mehr und die salzigen Tränen rannten wie im Marathon in meinen trockenen Mund rein.
,,Zoey?"
Diese Stimme brachte meinen Tränen plötzlich zum Stoppen. Diese Stimme klang wie zarte Geigenmusik in meinen Ohren. Diese Stimme war so voller Schmerz und Sorgen und sie gehörte nur einer Person: Tessa.
,,J-Ja?.."
Statt einer Antwort hörte ich nur Tessa weinen hinter der anderen Toilettenwand.
Ich half mir langsam hoch und krallte meine Fingernägel in die Wand mit der Hoffnung sie zu durchbrechen.
,,Was ist?", fragte ich und ich hörte mein Herz so laut schlagen. Lauter als die Musik eben.
,,Ich habe es getan.", sagte sie kaum hörbar und ich bekam Gänsehaut.
Sie hat es getan.
Aber was?
,,Wie..?", antwortete ich und verzog das Gesicht.
,,Ich habe alles erbrochen. Jeden Tag. Ich habe nie gegessen."
,,Nie?", rief ich und zog es erschrocken in die Länge.
Statt einer Antwort fing sie an zu weinen. Ich schloss schnell die Tür auf und klopfte an ihrer, bis sie zögernd aufschloss.
Sofort ließ ich mich neben sie auf den Boden fallen und nahm sie in den Arm.
,,Ich wiege unter 35..wenn die das erfahren, muss ich auf die Geschlossene und das ist eine Menschenfolter dort!", flüsterte sie und schnappte stets nach Luft. Ich schaute ihr tief in die Augen und verzog mein Gesicht vor Schmerz. Sie blickte stur geradeaus - wie ein Löwe.
,,Du kannst mit mir abhauen.", brach es aus mir heraus.
Sie sagte nichts. Ihre Miene blieb unverändert, doch plötzlich blinzelte sie schnell und drehte sich zaghaft um. Ihr eingefallenes Gesicht sah im schwachen Licht der Toiletten noch schlimmer aus als im Tageslicht. Ich fröstelte, aber schließlich nickte ich nochmal.
Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen.
,,Wohin gehen wir?"
,,Wir können zu mir und da nehmen wir weiterhin zu. Ich erkläre das meinen Eltern schon.", grinste ich. Doch Zunehmen wollte ich nie. Ich würde wahrscheinlich abhauen mit Natalia und dann bis in den Tod abnehmen. Oder noch umbringen. Das erschien mir um Einiges besser.
Tessa lächelte und ihre Augen glitzerten.
,,Ich danke dir so. Was sagen dann die aus der Klinik?"
,,Wir werden sagen wir hatten Streit und so kommen sie nie auf die Idee, dass du bei mir bist. Aber du musst mir etwas Versprechen.", flüsterte ich müde vor mich hin und am Ende schaute ich sie ernst an.
Sie blickte mich erwartungsvoll an und flüsterte ein stummes:,,Was?"
,,Du musst essen.", sagte ich mit fester Stimme.

Sie nickte.

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