Kapitel 30

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Es hatte eine Weile gedauert, bis Arabella Erwald alles berichtet hatte, was sie seit dem Tod des Försters herausgefunden hatte. Die junge Frau war sich zudem nicht sicher, ob ihr Gegenüber wirklich alles verstanden hatte oder ob es ihm einfach nur die Sprache verschlug. Nachdem sie geendet hatte, entstand ein kleiner, aber sehr unangenehmer Moment der Stille.
„Und… was sagst du dazu?“ fragte Arabella vorsichtig.
„Das … das kann nicht sein. Meine Mutter ist vielleicht ein wenig eigen, aber immer hilfsbereit und sie würde nie jemandem etwas antun! Ihr müsst euch irren!“ antwortete Erwald und stand auf. Er ging ein paar Schritte hin und her, der feuchte Waldboden knatschte leise unter seinen Stiefeln.
„Tut mir leid Erwald. Ich wünschte, es wäre anders. Ich habe deine Mutter auch immer bewundert“ meinte Arabella und seufzte leise. Umständlich kam sie ebenfalls auf die Beine und stach sich dabei noch ins eigene Fleisch. Wie sehr sie diese Stacheln hasste!
„Ah! Habt ihr euch weh getan? Hier, lasst mich mal sehen!“ rief Erwald und eilte zurück an ihre Seite. Arabella schüttelte knapp den Kopf.
„Keine Sorge, es ist nicht so schlimm. Ich gewöhne mich noch daran… so... zu sein.“ Ohne dass sie es hätte verhindern können, löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel und tropfte an ihrem Kinn herab. Schnell wandte sie den Kopf ab, doch natürlich entging es Erwald nicht.
„Aber das seid nicht ihr!! Ihr seid Arabella, die Tochter des Wirts, kein stacheliger Bas…oh…“ Er schlug sich die Hände vor den Mund.
„Bastard. Ja, sag es ruhig. Das Wort habe ich auch bereits hassen gelernt.“
„Verzeiht mir“ murmelte Erwald geknickt.
„Schon gut. Ich weiß, dass du es gut meinst. Kannst du bitte etwas für mich tun? Ich würde gerne mit meinem Vater sprechen. Vielleicht hat er eine Idee.“
„Hier im Dorf gibt es nur eine Person, die euch heilen kann“ erwiderte Erwald leise.
„ICH spreche NICHT mit Marianne. Auf gar keinen Fall! Sie hat mich gefangen nehmen und in einen Stall sperren lassen! Sie will mir nicht helfen, sie wird mich höchstens töten und auseinandernehmen um mein verformtes Fleisch zu studieren.“ Sie schauderte bei dem Gedanken daran.
„Und wenn ich sie darum bitte euch zu retten?“ fragte der junge Bursche vorsichtig, nicht ganz sicher, was er sonst tun sollte. Er wollte Arabella so gerne helfen, aber alles andere schien außerhalb seiner Möglichkeiten zu liegen.
„Ich weiß nicht, Erwald… vielleicht“ wägte Arabella ab „Lass uns erst ein paar Vorbereitungen treffen, nur zur Sicherheit.“ Unbewusst kniff sie sich mit zwei Fingern in die kleine Falte zwischen ihren Augen. Hinter ihrer Stirn pulsierte eine Mischung aus Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Wo sonst ein pragmatischer Optimismus wohnte, war nur noch die nagende Erkenntnis, dass sie nie wieder in ihr altes Leben würde zurückkehren können. Zumindest wenn sie so blieb, wie sie jetzt war. Und jeder, der ihr zu nahe kam, würde ihre Stacheln zu spüren bekommen, ob sie es wollte oder nicht. Der junge Bursche neben ihr hatte das wohl noch nicht erfasst. Er schlug mit der Faust in seine offene Handfläche.
„Nun gut, ich hole euren Vater hierher. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er ganz krank vor Sorge um euch und ich bin froh, wenigstens ein paar gute Nachrichten überbringen zu können. Wartet hier auf uns, haltet euch versteckt und bitte…“ Erwald schenkte ihr ein freundliches Lächeln, das ein wenig gequält wirkte. Mit allem was er an Zuversicht erübrigen konnte fügte er hinzu: „Es wird schon alles gut gehen.“
„HAH!“ rief Arabella voller Sarkasmus aus und lehnte sich ganz vorsichtig an einen dicken Baumstamm.

Als Erwald zwischen den Bäumen in Richtung Dorf verschwunden war, ließ sie sich langsam auf den Waldboden nieder. Sie blickte sich noch einmal aufmerksam um und schloss dann die Augen. In ihren Ohren wisperte der Wind aus den Baumwipfeln, das Rascheln des trockenen Laubes, die Rufe und Geräusche der Vögel und kleinen Tiere im Unterholz. Dazu gesellte sich etwas Neues, etwas was sie noch nicht als Teil ihrer Selbst akzeptieren konnte, der goldene Strom aus Magie, der durch ihre Adern rauschte. Sie spürte kleine Wassertropfen auf ihrer Haut. Unwillig schüttelte sie sich. Sie hatte Magie immer für gefährlich gehalten. Jeder Zauber, so harmlos er auch erschien, hatte das Potential ein Unglück heraufzubeschwören. Und hier saß sie nun und ließ es regnen. Ob sie wohl auch einen reißenden Fluss erschaffen konnte oder gar eine Sintflut? Wollte sie das überhaupt versuchen? Sie schüttelte den Kopf, öffnete die Augen und lehnte sich zurück. Wenn sie hier draußen in den Wäldern überleben wollte, dann würde sie früher oder später ihr gesamtes Potential nutzen müssen. Oder würde ihr Vater ihr eine Kammer im Keller einrichten, wo sie niemand je wieder sehen konnte? Ihren Lippen entrang sich ein kleiner Aufschrei, voller Frust. Wie konnte sie nur so denken?

Das Auge von NoxWhere stories live. Discover now