#02: Damals so wie heute

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01. April - nach dem ersten Training

"Ich bin wieder da", schallte seine klare Stimme laut durch den schmalen Flur des Hauses. Wie sonst auch immer streifte er schnell seine Schuhe von den Füßen, trat aus dem Eingangsbereich hinein in das Wohnzimmer und sah sich nach seinem kleinen Bruder Hiroto um. Er war sieben Jahre jünger als er und wenn man ihn sich so ansah, könnte man ihn fast als Kopie seines großen Bruders bezeichnen - eben nur in klein. Man käme allerdings nicht umhin, seine sich deutlich von Suga unterscheidenden Augenfarbe zu erwähnen, denn während der Ältere der Beiden braune hatte, trug der Jüngere ein eher gelblich-goldenes Paar Augen. Er würde definitiv total bei Nekoma reinpassen, pflegte Sugawara immer zu sagen.

Einmal kurz rief er nach ihm, wandte sich dann aber der Küche zu, die nichts als ein pures Chaos darstellte. Dreckiges Geschirr überfüllte die sonst so leere Spüle - immerhin waren sie bloß eine kleine dreiköpfige Familie, weswegen sie nicht so viel Geschirr benutzten - noch mehr war quer über die Theke verteilt, die sonst eigentlich zum Kochen immer frei geräumt war. Er machte einen stutzigen Gesichtsausdruck. Was ist denn hier los? Sonst sieht's hier doch auch nicht so aus.
Nach seinem kurzen Moment der Verwirrtheit lief er die Treppe hoch, um nach seiner Mutter zu sehen, die eigentlich zuhause sein sollte. Seine Finger streiften ein paar Bilder der Familie. Alle drei strahlten sie in die Kamera - seine Mutter stolz auf ihre beiden Söhne; sein Bruder noch zu klein, um sich äußern zu können - doch diese Zeiten waren leider nicht wirklich so froh gewesen wie sie jetzt auf den alten Bildern erschienen.

Vor dem Schlafzimmer seiner Mutter haltend nahm er einen tiefen Atemzug und hob die Hand, aus der er eine Faust formte. Er war schon damals immer nervös gewesen, wenn er mit seiner Mutter sprechen musste - sei es nun wegen der Hausaufgaben oder anderer, vielleicht sogar eher belangloser Dinge. Die Angst war immer da gewesen. Aber er wusste nicht, wovor.
Leise ließ er seine Faust gegen die Tür fallen und lauschte auf eine Antwort von innen. Als er auch nach dem zweiten Mal Klopfen keine bekam, rief er nach ihr: "Mom? Bist du da?".
Noch immer keine Antwort. Hoffentlich geht's ihr gut.

Das ganze Haus brachte heute einen seltsamen, fast unheimlichen Geruch in seine Nase. Es war kein tatsächlich existenter Geruch. Eher so etwas wie ein Gefühl. Ein Bauchgefühl vielleicht. Sugawara konnte es nicht genau einordnen und letzten Endes war es sowieso nicht von Bedeutung, da es ja nur ein Gefühl war und nichts weiter. Es war sicher alles in Ordnung. Doch die Tatsache, dass weder sein Bruder noch seine Mutter zuhause zu sein schienen, bereitete ihm dennoch Kopfzerbrechen - so sehr, dass er sogar vergaß, zu essen und sich direkt an seinen Schreibtisch zum Lernen setzte. Naja, zumindest versuchte er es. Die Informationen wollten einfach nicht in seinen Kopf und bevor er sich Gedanken über einen möglichen Grund machen konnte, schweifte er wieder zum Training von heute nachmittag ab und ließ sein Matheheft links liegen.

Kageyama Tobio.. Er hatte zuerst unscheinbar auf Sugawara gewirkt; wie ein ganz normaler Junge. Er hatte auch nicht sonderlich viel gesprochen, aber er war auf jeden Fall höflich gewesen, weswegen Sugawara ihn auch zunächst sympathisch gefunden hatte. Aber dann hatte er während des Trainings diesen hammermäßigen Aufschlag hingelegt und direkt danach das Zuspiel, das genau an Daichis Gewohnheiten angepasst gewesen war. Was sollte das? Ich meine, er kannte ihn doch nicht mal seit 'ner Stunde!
Sugawara hatte es jahrelange Arbeit gekostet, bis er endlich so eingespielt mit dem Team gewesen war, dass er vor seinem Zuspiel nicht mehr groß nachdenken musste. Und dann kam der Kerl angewatschelt und präsentierte dem ganzen Team Fähigkeiten, die in das japanische Nationalteam gehörten als wäre es gar keine große Sache? Ich hasse sowas. Wieso ist er so gut? Ich meine, schön für ihn. Aber es gibt auch noch normale Leute, die nicht sofort alles so hinkriegen. Ist doch unfair.

Die gesamte Mannschaft war hin und weg von dem Neuling gewesen. Wer hätte es ihnen verübeln können? Sugawara war ja selbst die Kinnlade nach unten geklappt. Aber das, was ihn störte, war ja nicht mal das abnormale Talent dieses jungen Zuspielers, sondern, dass seine eigenen Fähigkeiten nicht gegen ihn ankamen. Alles Training würde nichts gegen so ein Genie bringen. Das wusste er. Aber konnte er seinen Posten einfach so einem Angeber-Erstklässler überlassen, der nicht mal wusste, was Teamwork bedeutete? Immerhin hatte er sich permanent geweigert, dem anderen Neuling zuzuspielen, weil er "zu schlecht" wäre. Ich meine, ist er wirklich in der Position, zu entscheiden, wer gut genug ist, um mit ihm auf dem Feld zu stehen? Das ist gemein und eingebildet.
Gegen so etwas wollte Sugawara nicht verlieren. Auch, wenn er innerlich fast schon aufgegeben hatte, besaß er doch noch immer seine Sturheit, die ihn davon abhielt, seinen Stolz abzulegen und den Kleinen den Vortritt zu lassen.

Sugawara schreckte auf und warf versehentlich ein Glas um, das er sich auf den Schreibtisch gestellt hatte. Ein Quietschen von einer ungeölten Tür hatte ihn erschrecken lassen. War doch noch jemand anderes als er selbst im Haus oder hörte er jetzt plötzlich Gespenster?
"Ach, scheiße", fluchte er, als er das verschüttete Wasser erblickte, das sich bereits den Weg zu seinen Schulsachen gebahnt hatte. Schnell lief er zur Tür und verließ das Zimmer, um einen Lappen zum Aufwischen zu holen, damit er seine Notizen zumindest noch zur Hälfte retten konnte.

Doch bis zur Küche schaffte er es nicht, denn davor hielt ihn jemand auf. Seine Mutter stand in der Tür und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Ich dachte eigentlich, sie wäre nicht da..
"Mom? Seit wann bist du da?"
Sie antwortete nicht; starrte einfach nur das ganze Geschirr an, das noch immer in der Spüle vor sich hin gammelte. Mist, dachte er, ich hätte das vorhin wegräumen sollen.
"Ah, tut mir leid. Ich mach das gleich weg. Wie war dein Tag?"
Er lief an ihr vorbei in die Küche, nahm den Lappen und drehte sich zur ihr, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Ein paar blutrot unterlaufene Augen mit tiefen, dunklen Ringen darunter starrten ihn an. Er erschrak etwas, ließ es sich aber kaum anmerken. So ist das also. Deswegen hat sie vorhin nicht reagiert.
Seine Mundwinkel hoben sich etwas zu einem sanften, liebevollen Lächeln. "Wie wär's, wenn du dich gemütlich auf's Sofa legst und ich dir was koche?", bot er ihr an, wartete erst gar keine Antwort ab, nahm sie bei den Schultern und führte sie ins Wohnzimmer wo er ihr noch eine Decke über die Schultern legte.

Als er wieder in der Küche stand und das Geschirr diesmal tatsächlich abwusch, erinnerte er sich an ähnliche Situationen mit seiner Mutter. Sie hatte schon immer solche Tiefphasen gehabt, seit er sich erinnern konnte. Aber es war so lange alles gut gewesen, dass er irgendwie gehofft hatte, es bliebe so. Dann kann ich mir auch denken, wo Hiro ist. Er ist vermutlich auch da und versteckt sich in seinem Zimmer vor ihr. Sicher hat er nichts gegessen.
Sugawara beschloss, seinem Bruder später auf jeden Fall auch etwas zu Essen vorbeizubringen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sowieso immer für ihn gesorgt. Die Mutter der beiden hatte zwar auch ihre guten Momente, doch in der Regel hielten sie nie lange an. Zwei Monate war der Rekord gewesen und den hatte sie jetzt ja auch unterbrochen. Er seufzte schwer. Wie soll ich das wieder hinbiegen? Es darf nicht wieder so schlimm wie damals werden. Wenn sie wieder ins Krankenhaus kommt, könnte man ihr diesmal wirklich das Sorgerecht absprechen.

Und das musste Sugawara unter allen Umständen verhindern - selbst, wenn er dafür wieder jemanden über den Tisch ziehen musste, Hiroto durfte auf keinen Fall in ein Heim kommen. Dort würde er nicht klarkommen, da war er sich ganz sicher. Er musste ihn beschützen. Naja, so gut ihm das mit seinen 18 Jahren möglich war zumindest.

The moon jealous of the Stars [Haikyuu FF]Where stories live. Discover now