Kapitel 23 - Die Zwillinge (Part 2)

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- „Bist du dir sicher?"

Mich noch einmal nachzufragen wäre nicht nötig gewesen, ich sagte sehr selten Sachen, die ich nicht ernst meinte. Dennoch fühlte es sich gut an, zu wissen, dass die eine Person, der ich gewollt mein Herz öffnete, sich noch einmal um mein Wohlergehen bemühte.

Das Wort Angst war nicht gut genug, um auszudrücken, wie viel Schiss ich vor der ganzen Aktion hatte.

Schließlich ging es hierbei nicht um nette, süße Kindheitserinnerungen. Nicht um die Weihnachtsferien, in denen wir mit Kent eine Schneemann-Meerjungfrau bauten und meine Mama uns mit heißer Schokolade und winzigen Marshmallows überrascht hatte. Kent schüttelte seine Tasse genau neben dem Schneemann aus Versehen aus, woraufhin sein halbes Gesicht langsam wegschmolz. Er heulte LAUT. Lauter, als ich jemals ein Kind heulen hörte, obwohl wir gleichaltrig waren. Er schämt sich bis zum heutigen Tag dafür geweint zu haben. So sehr sogar, wenn man ihm auf diese Geschichte anspricht, sagt er sofort, dass er eine kleine Heulsuse mit sieben war. Interessant, dass er sich jedes Mal weigerte zuzugeben, dass ich älter als er bin. Zwar nur mit drei Minuten, aber wenn es um diese bestimmte Erinnerung geht, war ich zwölf und er plötzlich nur sieben. Naja. Mathematik war niemals eins seiner Stärken.

Innerlich grinste ich.

Ich erzählte Yoko kaum von meiner Familie. Nicht, weil ich mich dafür schämte, woher ich kam. Ich denke trotz den familiären Geschehnissen, hatten wir es immer gut. Dach über den Kopf, Essen im Magen und eine warme Decke. An Liebe fehlte auch nichts. Wir waren drei gegen die ganze Welt. Das reichte uns vollkommen. Doch das hieß auch, dass wir uns gegenseitig auch immer beschützen mussten, was wir sehr ernst nahmen. Es gab eine nicht ausgesprochene Regel zwischen uns: Der Opa, den wir kannten, existierte nur für uns. Seine dreckigen Klamotten, sein Wandschrank voller Alkohol, sein starker Griff um Mama's Hals. Für andere starb er schon drei Jahre zuvor. Bildlich gesehen. Oma's Tod war zu viel für ihn. Er starb an Liebeskummer. Es war noch ein Wunder, dass wir drei weitere Jahre mit ihm verbringen durften.

Bis ich ihn der Treppe runtergeschubst habe.

Nein.

Bis er an einem traurigen Nachmittag der Treppe runtergefallen ist.

Wir wurden niemals gezwungen zu lügen. Nicht einmal verließ eine Bitte den Mund unserer Mutter, dass wir unsere Geschichte verändern sollen. Wir, die Kinder, schauten uns gegenseitig in die Augen, danach auf unsere komplett blamierte, zerstörte Mama und so war es schon entschieden. Doch die Konsequenzen waren auch nicht ohne.

Kent wurde dadurch zu einem lustigen, lebensfrohen Menschen, der sich lieber für dumm halten lässt als sich mit den weiteren Problemen der Welt zu beschäftigen. Das könnte ich ihm niemals übelnehmen. Wir machten schon genug durch. Ich beneidete oft seine Lässigkeit.

Mir fiel es deutlich schwerer eine ganz neue Persönlichkeit zu erschaffen. Nicht meine Geheimnisse für mich zu behalten, denn das war schon immer ein Teil von mir. Es war eher die andere Richtung, die mir Schwierigkeiten bedeutete. Zu lächeln, Freunde zu finden, über das ganze hinwegzukommen. Mein Motto „Lieber alles verstecken als einzelne Details über dich zu verheimlichen" konnte ich nicht mehr anwenden. Dennoch war mein Bruder mein einziger Freund, bis ich an die Nevermore kam.

Es war sehr ungewöhnlich zwischen neuen Gesichtern zu laufen. Am liebsten hätte ich wieder mit Kent, Hand in Hand, den Eingang betreten, aber mit 14, die Hand deines Bruders zu halten, machte keinen guten Eindruck am ersten Schultag. Ihm machte das nichts aus, ich dagegen wollte nur im Boden versinken. Obwohl es dem schon zwei Jahre her ist, glaube ich immer noch kaum, was für ein Glück ich hatte, als mich dieses eine Mädchen nach dem Stundenplan gefragt hatte.

Die Wenclair Story - Gegensätze ziehen sich an (In Bearbeitung)Où les histoires vivent. Découvrez maintenant