19. Kapitel - Teil II

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«He, Adrienne, nicht einschlafen», riss Puceys Stimme mich aus einem gemütlichen Dämmerzustand. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war.

«Wir sollten zurück ins Schloss», schlug Pucey vor und stand auf.

Sofort biss sich Kälte in meine Haut wie ein hungriger Wolf und ich war hellwach. Und was tat Pucey? Er lächelte mich an und streckte mir eine Hand entgegen. Und ich hatte keine andere Möglichkeit als sie zu nehmen, wenn ich nicht auf dem Weg hoch zum Schloss erfrieren wollte. Das ärgerte mich. Es ärgerte mich, dass ich meinen Winterumhang nicht angezogen hatte. Es ärgerte mich, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, warm zu bleiben. Es ärgerte mich, dass ich mich dazu an Pucey schmiegen musste, unter seinen Umhang schlüpfen. Es ärgerte mich, dass ich so nahe zu ihm kommen musste. Aber am meisten ärgerte mich, dass ein kleiner, verräterischer Teil von mir kein bisschen dagegen hatte.

Pucey lachte. «Nun komm schon, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber du kannst natürlich auch frierend zurücklaufen.» Er wandte sich grinsend ab und machte sich auf den Weg nach unten.

Es war ein harter Kampf gegen meinen Stolz, bis ich schliesslich aufsprang und ihm nachlief. Nur wenige Treppenstufen unterhalb der Tribüne holte ich ihn ein ­– er hatte auf mich gewartet.

«Na also», sagte Pucey grinsend und zog mich an seine Seite und ich schmiegte mich an ihn.

Eng nebeneinander stapften wir zurück zum Schloss. Wir gingen schweigend, beide immer noch in unsere Gedanken versunken. Friedliche Gedanken. Warme Gedanken.

Als wir uns dem Schlossportal näherten, beschwor ich erneut meine Schatten – kein bisschen zu früh, denn von der anderen Seite kam das Licht eines Zauberstabs den Weg zum Schlossportal hoch.

«Was jetzt?», flüsterte Pucey.

«Warten», flüsterte ich zurück. «In den Schatten kann man uns nicht sehen.»

Wir warteten und beobachteten, wie das Licht näherkam und langsam seinen Träger offenbarte. Es war Professor Umbridge.

«Was macht die denn hier?!», entfuhr es mir.

«Scht!», machte Pucey. «Ich glaube, sie war bei Hagrid. Er scheint wieder da zu sein.»

Ich blickte an Umbridge vorbei über die Ländereien und tatsächlich: Aus den kleinen Fenstern von Hagrids Hütte leuchtete warmes Licht.

Umbridge hatte unterdessen das Schloss erreicht und stupste mit ihrem Zauberstab gegen das Tor. Sofort schwangen die grossen, schweren Torflügel knarrend auf und Umbridge schritt hindurch.

«Jetzt!», zischte Pucey und zog mich vorwärts.

Wir passierten das Tor knapp hinter Umbridge und waren bereits wieder in Deckung, gegangen als sich die Grossinquisitorin umdrehte und das Tor wieder zu zauberte. Oder besser gesagt: Pucey war in Deckung gegangen. Mich hatte er kurzerhand hochgehoben und durchs Tor getragen. Aber ich sagte nichts – Professor Umbridge hätte uns gehört. Stattdessen beobachteten wir, wie die Grossinquisitorin vergnügt summend durch die Eingangshalle ging und dann die Marmortreppe hinauf.

«Ich schlage vor, du bringst mich runter zu meinem Gemeinschaftsraum und dann gehst du hoch zu deinem», sagte Pucey.

«Wieso sollte ich?», sagte ich und machte mich von ihm los. Hier im Schloss brauchte ich seine Wärme nicht mehr, hier war es warm genug.

«Weil ich meinen Umhang mit dir geteilt habe», entgegnete Pucey.

Wütend erwiderte ich seinen Blick. Natürlich hatte Pucey recht: Ich war ihm was schuldig. Und das war eine einfache Möglichkeit, diese Schuld abzubezahlen.

Ungewisse Wege - Adrienne Seanorth 6Where stories live. Discover now