4. Kapitel - Teil III

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«Spät wie immer, Mr Montan, Mr O'Connor», begrüsste uns die forsche Stimme von Professor McGonagall. «Sind Sie beide und Miss Seanorth, Miss Silver, Miss Farley und Mr Shade die letzten?»

«Ja, Professor», sagte Elias.

Professor McGonagall nickte leicht. «Nun denn, gehen Sie in die Grosse Halle und setzen Sie sich an Ihre Haustische. Das heisst, dass Sie sich zu den Slytherins setzen, Miss Silver, haben Sie verstanden.»

Jessie verdrehte die Augen. Ende des letzten Schuljahrs hatte sie sich immer zu den Gryffindors gesetzt, auch bei festlichen Anlässen, und ich war ihr überaus dankbar dafür gewesen.

«Verstanden, Professor McGonagall», sagte Jessie artig.

An der Tür zur Grossen Halle teilte sich unsere Gruppe wie gewünscht auf, nur Kaspar blieb einen Moment stehen und sah auf den breiten Gang zwischen Ravenclaw- und Hufflepufftisch. Dort hatte einst der Tisch des Hauses Finjarelle gestanden, der Tisch, an dem Kaspar eigentlich hätte Platz nehmen müssen.

«Komm schon», sagte ich leise und zog Kaspar am Arm.

Wir gingen zum Gryffindortisch hinüber und setzten uns zu Alicia, Angelina, Lee und den Zwillingen, die uns Plätze freigehalten hatten.

«Schaut mal!», sagte Angelina begeistert und deutete auf ihre Brust. Dort steckte neben dem Gryffindorwappen ein Abzeichen, dass mir bekannt vorkam. Charlie Weasley hatte genau das gleiche Abzeichen getragen.

«Du bist Quidditchkapitänin geworden», stellte ich fest. «Herzlichen Glückwunsch, Angelina.»

Das Tor zur Eingangshalle, das Professor McGonagall hinter uns geschlossen hatte, ging erneut auf und unsere Hauslehrerin führte die neuen Erstklässler hinein. In einer langen Zweierreihe gingen sie zwischen den Haustischen durch zur Stirnseite der Halle, wo auf einem Podium der Lehrertisch stand. Vor den Lehrertisch stellte Professor McGonagall nun einen dreibeinigen Stuhl, auf dem ein alter Zauberhut lag, arg geflickt und gestopft und mit einem breiten Riss über der ausgefransten Krempe.

Das Stimmengewirr in der Grossen Halle erstarb bis auf ein paar wenige, geflüsterte Gespräche, während sich die Erstklässler vor dem Lehrertisch aufstellten, die Gesichter den Schülern zugewandt. Einige waren ganz blass, anderen war die Röte in die Wange gestiegen und alle waren sie furchtbar nervös. Doch die Aufmerksamkeit der meisten Schüler ruhte nicht auf den Erstklässlern – noch nicht – sondern auf dem zerschlissenen Hut, bei dem sich der Riss über der Hutkrempe langsam öffnete und dann begann der Sprechende Hut zu singen:

«In alter Zeit, als ich noch neu,
Hogwarts am Anfang stand.
Die Gründer unsrer noblen Schule
noch einte ein enges Band.
Sie hatten ein gemeinsam Ziel,
sie hatten ein Bestreben:
Die beste Zauberschule der Welt,
und wissen weitergeben.

«Zusammen wollen wir bau'n und lehr'n!»
Das nahmen die Freunde sich vor.
Und niemals hätten die vier geahnt,
dass ihre Freundschaft sich verlor.
Gab es so gute Freunde noch
wie Slytherin und Gryffindor?
Es sei denn jenes zweite Paar
aus Hufflepuff und Ravenclaw?
Weshalb ging dann dies alles schief,
hielt diese Freundschaft nicht?
Nun, ich war dort und ich erzähl
die traurige Geschicht'...»

Der Hut erzählte die Geschichte, erwähnte erst die Eigenschaften, die die Gründer an ihren Schülern am meisten schätzten, bevor er schliesslich erklärte, wie sie sich entzweiten. Was der Auslöser für diese plötzliche Zwietracht war, liess der Hut jedoch unerwähnt – ein Mord, die Ermordung Finëa di Finjarelles, einer der fünf Gründern, durch Rowena Ravenclaw aus gerechtfertigter Eifersucht. Dennoch war Mord das falsche Mittel, um die Unstimmigkeit zwischen den beiden Gründerinnen zu klären, und er zog unerwartete, fatale Konsequenzen nach sich. Es war dieser Mord, der das Gleichgewicht zwischen den fünf Gründern ins Wanken brachte und es schliesslich vollends zerfallen liess. Die Schüler des Hauses Finjarelle sahen sich gezwungen, die Schule zu verlassen, wodurch die Hexen und Zauberer in Hogwarts von anderen magischen Geschöpfen wie den Fey separiert wurden, und das Haus Finjarelle wurde zerstört und versank schliesslich in den dunklen Tiefen der Geschichte. Auch Salazar Slytherin sah sich schliesslich gezwungen, Hogwarts zu verlassen, um wenigstens ein kleines bisschen Gleichgewicht zurückzubringen. Das waren die Details und die Gründe hinter dieser 'traurigen Geschicht'.

Ungewisse Wege - Adrienne Seanorth 6Where stories live. Discover now