10. Kapitel

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Wie lange 'bald' war, war wohl Ansichtssache, mir kam es jedenfalls sehr viel länger als 'bald' vor. Es war bereits dunkel geworden und eigentlich hätte ich schon längst zurück im Schloss sein müssen, als Professor Dumbledore endlich den Eberkopf betrat. Beinahe hätte ich den Schulleiter nicht erkannt: Er trug einen unauffälligen, braunen Kapuzenumhang, anstatt der sonst so aufwändigen, farbenfrohen Gewändern. Ich sage 'beinahe', denn trotz des unauffälligen Aussehens, war da immer noch seine Präsenz. Dumbledore war zwar kein Fey, aber auch ihn umgab immer eine mächtige Aura, mal stärker spürbar, mal weniger stark, aber sie war immer da, denn im Gegensatz zu den meisten Fey gelang es ihm nicht, sie vollkommen zu verbergen. Nun ging der Schulleiter zum Tresen und sprach leise mit dem Wirt – seinem Bruder. Dieser nickte zu dem Tisch, an dem ich sass und Professor Dumbledore drehte sich zu mir herum. Ein weiteres Nicken des Wirts, diesmal eines dass mir sagte, dass ich den beiden Männern in den Flur folgen sollte, wo das versteinerte Monster lag.

Ich stand auf und ein seltsamer Schmerz durchzuckte mich. Es war ein Brennen, ausgehend von den Stellen, an denen das Monster mich verletzt hatte. Trotzig biss ich die Zähne zusammen und ignorierte das Brennen.

Der Wirt hielt mir die Tür auf, als ich den Flur betrat, der nun von mehreren Lichtkugeln erhellt wurde. Sie ähnelten jener, die ich beschworen hatte, um das Monster zu sehen. Dumbledore – der Schulleiter – kniete bereits neben dem versteinerten Monster und untersuchte es.

«Ah, Adrienne», begrüsste mich der Schulleiter. «Wie ich hörte, warst du es, die dieses Ungeheuer entdeckt und bekämpft hat. Sehr mutig, wirklich – aber unglaublich töricht.»

«Ich hatte keine andere Wahl, nachdem es uns bemerkt hat», verteidigte ich mich.

«Erzähl mir, was passiert ist», forderte der Schulleiter.

Also erzählte ich, wie ich die Präsenz dieses ... Dings ... wahrgenommen hatte, wie ich herausgefunden hatte, wo es war und wie ich mit dem Wirt diesen Korridor betreten hatte. Wie ich das Versteck des Monsters gefunden hatte und wie es uns angegriffen hatte, und dass wir ihm weder mit Zaubern noch mit dem Schwert hatten beikommen können – beides war an seinen grünen Drachenschuppen abgeprallt. Schliesslich hatte der Wirt sich darauf verlegt, das Ungeheuer mit Gegenständen zu bewerfen und ich hatte versucht, seine Schuppen zu lösen, was mir auch gelungen war und seine verletzliche Haut freigelegt hatte. So war es mir schliesslich gelungen, seine Angriffe abzuwehren und wir hatten es ausser Gefecht setzen können.

«Was weisst du über dieses Wesen, Adrienne?», hakte Dumbledore nach.

Verwirrt sah ich den Schulleiter an.

«Ich habe seine Präsenz gespürt, sie war seltsam ... unheimlich ... deshalb habe ich es gefunden; ich habe es nicht reingelassen oder so», verteidigte ich mich.

Ein leichtes, nachsichtiges Lächeln breitete sich auf Dumbledores Lippen aus. «Das meinte ich nicht. Was hast du über das Wesen gelernt, nachdem du ihm begegnet bis?»

«Es war stark und schnell ... und ziemlich geschickt mit seinen Klauen», sagte ich und deutete auf die abgehackten Arme, die neben dem Ungeheuer lagen. «Seine Schuppen schützen es gegen Magie und gegen Angriffe mit einem Schwert, sie können aber gelöst werden, wenn man sie gegen ihre Laufrichtung drückt. Und gegen Schläge mit stumpfen Gegenständen schützen die Schuppen es nicht ... vielleicht hätten wir es erledigen können, wenn wir ihm einen grossen Stein gegen den Kopf geknallt hätten?», überlegte ich.

«Ja, das hätte funktioniert», bestätigte Dumbledore. «Was noch?»

Nachdenklich sah ich auf das Monster und versuchte mich an jedes kleine Detail zu erinnern. «Es blutete nicht, das fand ich komisch, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Ausserdem schien es das Monster nicht wirklich zu kümmern, als ich ihm den Arm abgeschlagen hatte. Es hatte keine Schmerzen oder so, liess sich nicht davon aufhalten», erzählte ich. «Sein Geifer war säurehaltig ...» Mir fiel nichts Weiteres ein, doch es schien Dumbledore zu genügen.

Der Schulleiter und sein Bruder wechselten einen langen, bedeutungsvollen Blich.

«Was ist das für ein Wesen?», traute ich mich schliesslich zu fragen. «Ich dachte, es sei ein Drachenmensch, aber die bluten wie wir auch und sie kennen auch Schmerzen ...»

«Es ist ein Drachenmensch», knurrte der Wirt. «Oder zumindest war es mal einer ... Jetzt ist es ein Inferius.»

«Ein was?», fragte ich irritiert.

«Ein Inferius, eine tote Kreatur, die durch schwarze Magie zum ... nun nicht wirklich zum 'Leben' erweckt wurde, aber sie kann sich bewegen und kann handeln. Aber sie entscheidet nicht selbst, was sie tut, sondern führt ausschliesslich die Befehle ihres Erschaffers aus. Wie du bemerkt hast, Adrienne, sind sie unempfindlich für Schmerzen und bluten nicht. Schie können nicht auf normalem Wege getötet werden, sondern müssen zerstört werden. Am effektivsten bekämpft man Inferi mit Feuer, da sie Licht und Wärme scheuen», erklärte Dumbledore.

Ich nickte langsam und starrte auf den Inferius. Das war abscheulich. Grausam. Pietätlos. Angsteinflössend.

«Und ihre Seelen?», fragte ich leise.

«Sie sind bereits weitergezogen, wenn ihr toter Körper wieder zum Leben erweckt wird» sagte Dumbledore sanft. «Auf sie hat dieser Zauber keinen Einfluss.»

Erleichterung machte sich in mir breit. Wenigstens etwas.

Aber ... warum war dieses Monster überhaupt hier? Dumbledore hatte gesagt, dass Inferi die Befehle ihrer Erschaffer ausführten ... «Wer hat ihn hergeschickt? Voldemort?»

«Wäre möglich ...», sagte der Schulleiter.

Dumbledore sprach einige Zauber, die dafür sorgten, dass der Inferius seinen Kopf wieder bewegen konnte, doch der Rest seines Körpers blieb erstarrt.

«Weshalb bist du hier?», fragte Dumbledore das Monster.

Dieses gab ein seltsames Geräusch von sich. Eine Art Lachen, doch es klang so monoton und emotionslos, dass es mir kalte Schauder über den Rücken jagte. «Ich muss Albus Dumbledore oder Kathalena Norvik töten. Ich habe die beiden hier gespürt, also bin ich in diese Kneipe gegangen und habe ihnen aufgelauert, aber bisher ist es mir nicht gelungen», berichtete der Inferius genauso monoton und gleichgültig.

Verwirrt sah ich zwischen dem Monster, Professor Dumbledore und dem Wirt hin und her. Das ergab keinen Sinn.

«Du hast weder Kathalena Norvik noch Albus Dumbledore gefunden, sondern nur zwei Personen, die zu uns gehören. Aber jetzt hast du mich, Albus Dumbledore vor dir, doch du wirst mich nicht töten – nicht bevor du mir gesagt hast, wer dich hier hergeschickt hat.» Während Dumbledore sprach, baute sich die Aura der Macht, die von ihm ausging, immer weiter auf und liess mir die Haare auf den Armen zu Berge stehen.

«Der Mächtigste aller Zauberer hat mich geschickt», sagte der Inferius und liess wieder sein unheimliches Lachen hören. «Gellert Grindelwald. Damit ich Ihren Verrat an meinem Meister räche. Sie haben sich selbst in den Untergang getrieben, als Sie mit meinem Meister gebrochen haben, das werden Sie schon bald feststellen. Und dann werden Sie sich wünschen, Sie hätten meinen Meister niemals verraten, niemals mit meinem Meister gebrochen. Denn dann hätten Sie nun eine Chance. Aber so sind Sie verloren», sagte das Ungeheuer und spuckte Säure.

«Hat er dir das gesagt? Hat Gellert Grindelwald dir das gesagt?», fragte Professor Dumbledore und in seiner Stimme lag ein Zorn, den ich dem gutmütigen Schulleiter niemals zugetraut hatte. Er war unversöhnlich, voller lang gehegtem Groll und voller unverhüllt hoch auflodernder Macht.

«Ja, das sind die Worte meines Meisters. Und er sagte, dass sollen die letzten Worte sein, die Ihr hören werdet!»

Der Inferius spuckte erneut Säure, doch Dumbledore zog sich zurück, bevor ein Tropfen ihn treffen konnte. Dann zuckten plötzlich Flammen zwischen seinen Fingern und nur Augenblicke später stand der Inferius in Flammen und verbrannte zu nichts.

«Was hat das zu bedeuten, Albus?», fragte der Wirt schliesslich leise.

«Ich weiss es nicht», grollte Professor Dumbledore und wandte sich dann zu mir. «Adrienne, sag Kathleen nich–» Er stockte und starrte mich an. «Was ist das auf deiner Wange?»

Verwirrt vom plötzlichen Themenwechsel fasste ich an meine Wange. Dort, wo zuvor das Brennen gewesen war, fühlte ich nun absolut nichts mehr. Eine seltsame Taubheit hatte diese Stelle in Besitz genommen und sie schien sich nun rasend schnell auszubreiten. Im einen Moment sah ich noch die entsetzten Blicke der beiden Männer und dann war da nichts mehr.


Ungewisse Wege - Adrienne Seanorth 6Where stories live. Discover now