Kapitel 29

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Überall lagen Bücher und Blätter am Boden verteilt. Marc und seine Freunde saßen dazwischen. Sie hatten sich bei Hugo verabredet, weil er neben die meiste Ruhe auch das größte Zimmer hatte. Tom hätte zwar mehr Platz, aber dort war Besuch nur bei Abwesenheit seiner Eltern möglich und so saßen sie nun zwischen Bett, Schreibtisch und den zwei Regalen an den Wänden, um für die Abschlussprüfung zu lernen.

Marcs Kopf war vollgestopft mit Formeln, Gleichungen und Phänomenen, dass er die Fremdsprachenwörter kaum noch hinein brachte und er darauf wartete, dass sein Schädel jeden Moment explodierte. Aber sie hatten nur noch diese eine Woche vor sich, dann wäre es geschafft.

Seit dem Outing damals kam das Thema nie wieder auf, aber Marc konnte nicht verhindern, dass ihm die Blicke von Tom durchaus auffielen. Immer in den Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte, doch Marc konnte ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Seit er wusste, dass sie Leidensgenossen waren, achtete er noch mehr darauf, dass seine Tarnung ihm gegenüber nicht aufflog.

„Ach, schon wieder ist die Cola aus und zum Knabbern ist auch nichts mehr da. Wer hilft mir tragen?" Hugos kurzes Gejammer durchbrach die Stille und Marcs Hand zuckte in die Höhe, doch Klaus war schneller. „Ich brauch eh mal ne Pause. Die Worte verschwimmen nur so vor mir und ergeben keinen Sinn mehr."

Langsam sank seine Hand wieder und dort war es erneut. Dieses beklemmende Gefühl, das er immer in Toms Nähe hatte, wurde durch die Zweisamkeit noch stärker und er schnellte in die Höhe, doch die Worte des anderen stoppten ihn auf halben Weg. „Kann es sein, dass du meine Nähe meidest, Marc? Bist wohl doch nicht so cool damit, wie du vorgibst."

Er schluckte trocken und setzte sich wieder im Schneidersitz hin, bevor sein Blick nach links auf Tom glitt, der ihn neutral ansah. „Ich kann es ja verstehen. Wärst nicht der Erste und so, aber irgendwie glaube ich, dass dein Problem mit meiner Homosexualität andere Gründe hat, als die deiner Vorgänger."

„Was? Wie kommst du denn darauf? Ich hab doch gesagt, dass ich cool damit bin." Marc wich Toms Blick aus und dieser seufzte schwer. Er hörte das Rascheln des Stoffes, als sich sein Gesprächspartner anders hinsetzte und er schluckte trocken als er sich wieder dieser Nähe bewusst wurde.

„Ich weiß, was du gesagt hast, aber..." Tom brach seufzend ab und strich sich kurz durch die Haare, während er nach den richtigen Worten suchte. Seine Zunge schleckte über seine Lippen und er biss sich kurz darauf.

„Also... an sich kann ich es mir ja nicht einmal selbst erklären. Aber... irgendwie ist diese Ablehnung... nein, da gibt es ein besseres Wort. Genau, diese Schwingungen zwischen uns anders. Ich... ich glaube, dass du nicht so heterosexuell bist, wie du vorgibst zu sein." Diese direkte Aussprache ließ Marc kurz zurück zucken, bevor er dann empört prustete.

„Was? Ich nicht heterosexuell. Pfft... das glaubst du ja wohl selbst nicht. Ich steh nicht auf Männer und es tut mir Leid, dass ich in dein Beuteschema passe, aber zwischen uns wird nie etwas laufen, okay? Ich bin nicht bi, okay?" Jedes seiner Worte schnitt tief in sein Fleisch und ließ ihn am Ende trocken schlucken, doch Toms Blick blieb, so wie er vorhin war. Offen, ehrlich und voller Verständnis. Nichts von dem Schmerz, der bei der ersten Lüge dort war, sondern eher ein Bedauern, als hätte er Marc durchschaut.

„Ich glaube dir, dass du nicht bi bist. Aber du bist auch nicht hetero. Ich kann dich verstehen, dass du es leugnest und alles. Schließlich fährt man damit meistens besser, aber schließlich sind wir deine Freunde und du solltest uns schon so weit vertrauen. Außerdem hast du doch gemerkt, dass es vollkommen okay für uns ist." Tom ließ nicht locker und Marc versuchte Worte zu finden. Antworten, Erwiderungen, die er irgendwie über seine Zunge brachte, die all das verneinen und die Maske weiter in seinem Gesicht hielten.

„Ich vertraue euch", flüsterte er, doch die Mauer blieb. Der verkrampfte Griff um die Maske ließ sie nicht bewegen und kurz war dort der Wunsch sich Tom anzuvertrauen. Jemanden auf seiner Seite zu haben, der das Alles kannte und endlich wieder man selbst zu sein, doch seiner Kehle entwich kein Laut.

Tom lächelte nur kurz traurig, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein, tust du an sich nicht. Ich spüre es deutlich. Habe es schon damals gemerkt, als du mich umarmt hast. Das war anders. Dieses Kribbeln und die Spannung zwischen uns. Die gibt es nicht zwischen Homo und Hete. Das kannst du knicken. Das war eine Verbindung, die ich nur bei Gleichgesinnten spüre."

Er ließ nicht locker und Marc biss sich auf die Unterlippe. Seine Verneinungen klangen hohl in seinem Geist und so formte sein Mund sie erst gar nicht. Er sah weiter auf Tom, der ihn nie bei sich haben wollte und jetzt dabei war sein Todesurteil zu unterschreiben, weil er nicht glaubte, was Marc ihn erzählte.

Die Augen seines Gegenübers huschten suchend über sein Gesicht, doch sie fanden nicht das, was sie sich wünschten und als ihm bewusst wurde, dass Marc nichts sagen würde, sprach er selbst weiter: „Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass du deswegen bei den Wagners bist. Wahrscheinlich hat deine Familie herausgefunden, dass du Männer liebst und entsprechend reagiert. Ich versteh dich da voll, Kumpel. Es geht mir mit meinen Eltern ja nicht anders. Sie dürfen das echt nie erfahren, sonst bin ich obdachlos."

„Wenn es nur das wäre." Ein simpler Satz, doch Marc schwieg danach weiter, egal wie drängend der Blick von Tom auch war, was diesen seufzen ließ. Nur kurz schüttelte er den Kopf und ließ die Stille nicht zwischen ihnen einziehen: „Du hast deine Gründe in der Öffentlichkeit auf Hete zu tun, aber besonders gut machst du das nicht. So wie du Hugo mit deinen Augen ausziehst, muss man schon blind sein, um nicht zu erkennen, was bei dir Sache ist. Also, wenn du wirklich verhindern willst, dass man deiner Homosexualität nicht mitbekommt, dann solltest du aufhören Hugo so anzuschmachten."

Wie konnte das sein? Marc achtete doch immer darauf und ja, er konnte nicht leugnen, dass ihn Hugo gefiel und er sich nach dessen Nähe sehnte, doch er war immer der Meinung, dass er es zumindest so weit verheimlichen konnte, dass es niemand anderes mitbekam. Leider schien er sich da getäuscht zu haben.

„Wie?" Marc wurde von dem Eintreten von Hugo und Klaus unterbrochen, wodurch er nur ein kurzes Lächeln von Tom bekam, bevor sich dieser wieder seinen Unterlagen zuwandte. Wie konnte das sein? Er hatte doch immer penibel darauf aufgepasst, dass er nicht zu sehr starrte oder gar anhimmelte, doch scheinbar hatte es Tom bemerkt.

„So, Nachschub, Jungs. Gott bin ich froh, wenn die Zeit vorbei ist und wir endlich wieder eine Runde Magic spielen können. Das Lernen macht echt keinen Spaß mehr, oder?" Hugo schlug Marc nur kurz auf den Rücken, bevor er die Gläser der Beiden auffüllte und dann wieder zwischen seinen Unterlagen Platz nahm.

Doch Marc konnte seinen Blick nicht mehr von Tom nehmen, der sich schon wieder auf seinen Lernstoff konzentrierte. Was sollte er tun? Leugnen schien zwecklos zu sein, doch er konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen. Auch wenn er ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar verstand, was wenn herauskam, dass er Interesse an Hugo hatte? Klar, sie waren alle ganz cool damit, aber jeder konnte so etwas sagen, wenn es ihn noch nicht betraf.

Er wollte diese Freunde nicht verlieren. Nicht diesen sicheren Hafen aufgeben, doch er war Tom dankbar, dass er das Thema nicht fortführte während die anderen dabei waren. Das gab Marc eine gewisse Galgenfrist, doch das half ihm jetzt auch nicht dabei herauszufinden, wie er damit umgehen wollte. Daher kehrte er es vorerst unter den Teppich und nahm sich vor, dass er es ab sofort vermied mit Tom alleine zu sein.

Genau, das klang doch nach einem richtig guten Plan, denn dann würde Tom ihn auch nicht mehr ansprechen und somit blieb sein Geheimnis unberührt und er müsste sich nicht outen. Ja, so konnte die Lüge weiter existieren. Diese eine Lüge, die ihn am Leben hielt und die er brauchte, wie die Luft zum Atmen. Denn wenn sie nicht mehr wäre, dann könnte sein Vater zurückkommen und dann... dann würde er sterben.


Verhasst - Einzig seinen Weg finden zu lebenOnde histórias criam vida. Descubra agora