Kapitel 15

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Ruhig nahm Marc auf seinem Stuhl in der Klasse Platz. Erneut würde der Tisch neben ihm leer bleiben. Wie all die Tage zuvor und auch jeder Anruf blieb unbeantwortet. Oliver hatte seine Nummer immer noch geblockt und keiner wollte ihm Auskunft über ihn geben. Niemand schien zu wissen, wie es ihm ging oder gar was wirklich passiert war. Immer wieder hörte er die Worte des Lehrers, die bedrückt von dem Vorfall berichteten: Oliver wurde Opfer eines tragischen Unfalls. Er liegt im Krankenhaus und wird eine geraume Weile nicht kommen können, doch er ist außer Lebensgefahr. Daher konzentrieren wir uns weiter auf unseren Unterricht und wünschen Oliver in Gedanken alles Gute.

An diesem Tag brach Getuschel aus. Immer wieder wurde spekuliert und Marc spürte all die fragenden Blicke und jeder, der auf ihn zutrat und wissen wollte, was passiert war, schickte er weg mit dem Glauben, dass er selber keine Ahnung hatte. Ja, ihre Liebe war hier kein Geheimnis und obwohl so viel Hass auf der Welt existierte, war diese Klassengemeinschaft ein Ort der Zuflucht für sie gewesen. Ihre Liebe war hier akzeptiert und natürlich ging auch die Trennung nicht unbemerkt an ihnen vorbei, aber mehr als zwei oder drei Tage hielt sich die Stimmung nie. Dann kam der Alltag zurück und alles schien wie vorher zu sein. Alles und auch wieder nichts.

Nichts für Marc, der neben diesem leeren Stuhl saß und sich nur wünschte, dass ihm irgendwer eine Antwort geben könnte. Wie oft stand er einfach auf der Straße und an der Kreuzung zu Olivers Zuhause, um diesen Weg dann eben nicht zu gehen, sondern wieder nach Hause oder gar jetzt zu Gabi zu gehen. All sein Zeug hatte er mal in einer Nacht und Nebel Aktion geholt, als ihm seine Mutter grünes Licht gegeben hatte. Jetzt schlief er auf einer Matratze auf Gabis Boden und war dankbar für diese Familie, die ihm Zuflucht gewährte.

Er konnte das Blut auf den Fäusten seines Vaters nicht vergessen. Nicht diesen Zorn in den Augen, der alles verschlang und nur noch puren Hass zurückließ. Puren Hass und totale Zerstörungswut, die Marc vernichtet hätten, wenn ihn seine Mutter nicht gerettet hätte. Er hatte die blauen Flecken gesehen, die ihr Gesicht und ihre Arme zierten und verspürte nur noch tiefere Dankbarkeit für ihr Tun. Eine Dankbarkeit, die ihn all die Pein vergessen ließ.

„Guten Morgen, Klasse." Die Stimme des Lehrers riss ihn aus seinen Erinnerungen und der traurige Blick, der ihm dort begegnete, ließ ihn sofort versteifen. „Ich habe traurige Nachrichten. Oliver Reichert wird diese Klasse nicht mehr besuchen. Er wird mit seiner Familie in eine andere Stadt ziehen. Scheinbar war es nicht nur ein Unfall, wie man mir kurz mitteilte, sondern ein gewaltsamer Angriff, der ein weiteres Leben in unserer Stadt unmöglich macht. So etwas stimmt mich immer sehr traurig, dass so etwas grausames in einer friedlichen Gemeinde, wie der unseren, passieren kann. Aber das zeigt uns allen, dass es überall Monster gibt. Monster, die sich tarnen, um dann erbarmungslos den uns so geliebten Frieden zerfleischen, wenn man mal nicht hinsieht. Traurig, so etwas ist einfach nur traurig. Aber ich hoffe, dass ihr euch dennoch auf den heutigen Stoff konzentrieren könnt. Das Schuljahr hat noch ein paar Prüfungen für euch bereit und wir werden uns von solchen Idioten nicht die Zukunft versauen lassen, oder?" Ein gemeinschaftlicher Zuspruch erklang, dem sich Marc nicht anschließen konnte. Seine Gedanken kreisten immer noch um diese Information, die sein Leben in tausend Stücke schlug.

Oliver zieht weg? Ich werde ihn nie wiedersehen? Das kann doch nicht sein! Nur wegen meinem Vater? Er... er war doch immer der Meinung, dass das Alles nicht so schlimm ist und jetzt das? Was soll ich jetzt tun? Ich wollte ihn doch noch einmal sehen und ihm sagen, dass ich ihn immer lieben werde. Was soll ich jetzt tun? Kann ich ihm wieder schreiben? Wird er meine Nachricht irgendwann lesen? Wird er mich irgendwann wieder freischalten? Soll ich mir eine neue Nummer holen? Nein, das ist Blödsinn. Ich bin ja kein Stalker. Soll ich es einfach akzeptieren? Akzeptieren, dass diese Liebe vorbei ist? Einfach so geplatzt? Zerschlagen? Kann ich ihn vergessen?

Sein Blick wanderte zu dem leeren Platz und er spürte erneut diesen Stich in seinem Herzen. Jetzt wo er wusste, dass er für immer leer bleiben würde oder zumindest nie wieder dieser eine Mensch dort sitzen würde. Diese sanfte Stimme ertönen würde oder gar das Lächeln ihm begegnen. Niemals wieder.

Der Schultag lief stumpf an ihm vorbei. Er hörte die Stimmen, aber verstand die Worte nicht. Seine Hand schrieb von selbst mit, was sein Hirn hoffte, dass irgendwie wichtig war, auch wenn er nicht verstand, was es bringen sollte. Es fühlte sich alles plötzlich so sinnlos an. In dieser Welt schien es keinen Platz mehr für ihn zu geben. Oliver war weg. Sein Vater wollte ihn tot sehen. Er konnte nur noch fliehen und sich verstecken. Hoffen, dass all dies irgendwann vorbei sein würde, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es niemals enden würde. Nicht solange sie beide am Leben wären. Dieses Versprechen seines Vaters hing ihm eiskalt im Nacken. Wie ein Fluch und er spürte, wie das Glück ihm durch die Finger glitt. Sollte es wirklich so sein? Würde er ihn zerstören? Ließ sich Marc denn zerstören? Nein, er wollte leben und lieben und daran könnte ihn auch sein Vater nicht hindern. Niemals...


Verhasst - Einzig seinen Weg finden zu lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt