Kapitel 19

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„Jetzt ist es also so weit, hm?" Gabi stand im Rahmen der Tür, als Marc seine letzten Sachen in eine Tasche packte. Er hatte sonst nichts. All sein Besitz war immer noch bei seinen Eltern und auch wenn er das Ein oder Andere an sich gerne gehabt hätte, so wollte er diese Wohnung nicht mehr betreten. Die Angst, dass er sie nicht mehr verlassen würde, war zu groß und auch wenn man ihm Geleitschutz anbot, konnte dies seine Zweifel nicht beseitigen.

„Sicher, dass du das Angebot nicht annehmen willst und noch deine Sachen aus deinem Elternhaus holst? Es klingt doch gar nicht so falsch, wenn man deinen Vater den Zutritt während dieser Zeit verweigert, oder?" Sie stieß sich vom Türrahmen ab und trat auf ihn zu, was ihn kurz lächeln ließ.

„Ja, ich will nicht, dass mein Vater weiß wo ich wann bin. Das war mit der Schule schon immer so riskant. Aber ich habe nicht vor, dass er mir meine Zukunft versaut und alles was ich dort habe, kann man irgendwo wieder kaufen oder sind nur Erinnerungsstücke an Dinge aus meinem Leben, die eh verloren sind. Also auch nicht von Bedeutung." Er zuckte mit den Schultern und zog schließlich den Reißverschluss zu.

„Weißt du schon, wo es hingeht? Wenn es nicht allzu weit weg ist, dann können wir dich sicher mal besuchen." Jetzt trat auch Mike dazu und obwohl er am Anfang recht kühl war, hatte er sich seit dem Überfall eindeutig geöffnet. Als wäre ihm dann endlich bewusst geworden, wie die Situation tatsächlich war und es eben keine Kleinigkeit war.

„Ja, weiß ich schon. Aber das wird zu weit sein. Fast ans andere Ende von Deutschland. Ich komme in eine Familie, die sogar meinen Nachnamen trägt, sodass es kaum auffällt, dass da jemand Neues wohnt. Sie haben zwei eigene Kinder. Ich lass mich also überraschen." Marc spürte diese Nervosität des Unbekannten, doch sie wurde überraschte von der Freude endlich außer Gefahr zu sein. Er würde untertauchen und sein Vater würde ihn nicht mehr finden. Zumindest hoffte er, dass dieser Wahnsinn auch irgendeine Grenze besaß und er nur weit genug verschwinden musste, um vor ihm sicher zu sein.

„Schade, dann werden wir uns also nicht mehr sehen." Mikes Gesicht wirkte genauso zerknirscht wie die Stimme von Gabi klang, was auch Marc kurz traurig lächeln ließ, bevor er dann einen nach dem anderen umarmte.

„Die Welt ist klein. Wer weiß. Aber ich bin euch beide dankbar. Genauso wie euren Eltern. Ihr habt mir sehr geholfen. Einfach danke für alles." Der süßliche Duft von Gabi erschuf eine Geborgenheit in seinem Inneren, das die Kälte der Gefahr und der unsicheren Zukunft vertrieb. Als er Mike das erste und wohl letzte Mal männlich umarmte, sog er die Luft tief ein. Er mochte sein Aroma, das eine heiße Welle der Erregung durch seinen Körper schickte und kurz bereute er es, dass er nie den Mut gefunden hatte einen Schritt auf ihn zuzugehen und ihm zu sagen, wie er für ihn empfand. Doch jetzt war es zu spät. Er musste alle Seile zu dieser Stadt kappen. Jeden noch so kleinen Faden, dem sein Vater folgen könnte, zerreißen und von sich werfen.

Die Türklingel zerriss die Stimmung und sprengte die Umarmung der Beiden, wodurch Marc sofort nach seiner Tasche und Schulpack griff, um sie sich über die Schultern zu werfen. Noch einmal sah er in die Gesichter der beiden Zwillinge und er musste erneut traurig lächeln. Sie fehlten ihm jetzt schon, doch er hing an seinem Leben.

„Herr Wagner?" Dort war wieder die Dame vom Jugendamt, die ihm auf all seinen Wegen begleitet hatte. Ihr freundliches Lächeln vertrieb die Trauer und als er auf die Tür zuging, wandte er sich noch einmal an seine Gasteltern.

„Danke für Alles. Für das Aufnehmen und die Versorgung. Ich würde es euch gerne irgendwie anders vergelten, aber ich kann mich nur bei euch bedanken. Danke, ihr habt mein Leben gerettet." Der Vater winkte ab, während die Mutter ihn kurz in die Arme zog und ebenfalls umarmte. Ihr Duft glich ein wenig dem von Gabi, doch er wirkte erwachsener und weniger verspielt.

„Alles ist gut. Wir wünschen dir viel Glück und Erfolg in deinem weiteren Leben. Lass bei Gelegenheit vielleicht etwas von dir hören." Er klopfte ihm ruhig auf die Schulter und Marc nickte zustimmend, bevor er dann durch die Tür schritt und der Dame nach unten folgte.

„Na? Schon nervös?", begann sie ein Gespräch, was Marc kurz lächeln ließ, während er sich an dem Gurt seiner Tasche festkrallte und dann nickte. „Ja, schon ein wenig. Ich bin auf die neue Familie gespannt, aber auch einfach froh, dass ich dann wieder angstfrei durch die Straßen gehen kann."

„Ja, das glaube ich dir sofort." Erneut war dort ihr Lächeln, als sie schon ihren Wagen aufsperrte. Ein roter Nissan Micra, der schon fast verloren wirkte, dennoch kam ihm der Platz darin genug vor und er warf sein Gepäck in den Kofferraum, um dann auf der Beifahrerseite einzusteigen.

Noch einmal atmete er tief durch und sah zu dem Gebäude zurück. Ein Mehrfamilienhaus, in dem man ihm ohne zu zögern Unterschlupf gewährte. Diese Dankbarkeit wurde mit jeder Sekunde, die verging, stärker und bodenloser. Er hätte etwas tun müssen, doch auch jetzt fiel ihm nichts ein, was auch nur im Ansatz gut genug dafür gewesen wäre.

In diesem Moment fühlte er sich auf seltsame Weise undankbar, doch bevor er sich tiefer in diese dunkle Spirale stürzen konnte, rissen ihn die Worte der Sozialarbeiterin aus ihr: „Die Wagner sind sehr nett. Sie haben schon öfters Pflegekinder aus problematischen Umfeldern befreit und wissen, wie wichtig in solchen Fällen eine hohe Integrität ist. Du bist nicht ihr erster Fall von solch starker Kindergefährdung. Also, da brauchst du dir keine Sorgen machen, dass du sie irgendwie überfordern könntest oder ähnliches. Sie freuen sich auch schon auf dich."

Kurz stockte Marc und sah die Dame irritiert an, als eine ganz andere Angst in ihm empor kroch.Was wenn sie auch homophob sind? Was soll ich dann tun? Wissen sie es?

Scheinbar war seine Panik mehr als sichtbar, denn die Fahrerin begann zu lachen und winkte ab. „Keine Angst. Sie wissen über deine Sexualität nicht Bescheid, doch du bist nicht das erste Problemkind, das sie aufnehmen. Wie schon gesagt, Familie Wagner hat da einen sehr großen Erfahrungsschatz. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen. Sie werden perfekt für dich sein."

Ihre Worte klangen in seinen Ohren nicht so schön, wie sie vielleicht konnten, doch schließlich fuhren sie am Ortsschild vorbei und Marc begann sich immer mehr anzuspannen. Sein Versteckspiel würde wieder weitergehen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es je wieder beenden würde. Zu groß war die Angst, die sich alleine bei dem Gedanken daran in ihn ausbreitete.

Oliver... wie schön wäre es, wenn wir auch noch einmal von vorne anfangen könnten. Wohin er wohl gezogen ist? Ob er sich schon wieder neu verliebt hat? Erinnert er sich überhaupt noch an mich oder hat er mich schon vergessen? Wie gerne würde ich ihn anrufen. Nur noch einmal seine Stimme hören. Merken, dass es ihm gut geht. Doch...

Seine Finger wählten wie von selbst die ihm so geliebte Nummer, doch auch jetzt kam nur ein Freizeichen und dann sofort die Mailbox. Kein Durchdringen. Er war immer noch geblockt. Es würde auch nie anders werden. Er war aus diesem Leben gestrichen worden und er konnte ihm nicht einmal böse sein deswegen. Schließlich hätte er ihm beinahe umgebracht. Das Leid, das Oliver wegen ihm erleiden musste, könnte Marc nie wieder gut machen. Nie wieder.

Und so steckte er sein Handy schließlich wieder ein und starrte aus dem Fenster vor sich. Die Straße flog an ihnen vorbei. Genauso wie die Landschaft. Dort waren Autos, Lastwagen und andere Fahrzeuge, die kamen und gingen. Genauso wie die belanglosen Gespräche, um die Zeit schneller verstreichen zu lassen.

Jeder Kilometer, den sie zurücklegten, ließ Marc ein wenig mehr entspannen, bis die Angst schließlich gänzlich von ihm abfiel und er eine beschwingliche Leichtigkeit verspürte, die seine Schulter straffer und auch ihn größere werden ließ. Eine Freiheit, von der er all die Jahre geträumt hatte und nun ein Lächeln auf seine Lippen zauberte.

Ja, endlich fing sein Leben an. Jetzt würde sein Glück beginnen und er würde es sich nie wieder nehmen lassen. Nie wieder...


Verhasst - Einzig seinen Weg finden zu lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt