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Ives

Ich hechle wild nach Luft. Meine Beine fühlen sich bleischwer an und ich habe die Orientierung verloren. Ich möchte eine Pause machen, doch jedes Mal, wenn ich mein Tempo verringere, sehe ich Jonas vor mir. Mein Herz verkrampft sich. Ich nehme wieder an Geschwindigkeit zu und laufe, als hätte ich nie etwas anderes getan.

Ich kann noch so schnell rennen, aber sie holen mich ein. Alles holt dich am Ende ein. Vielleicht, weil du nicht vor dir selbst davonlaufen kann. Du kannst es versuchen, aber du wirst dir selbst immer folgen.

Ich fühle mich plötzlich Jahre jünger. Ängstlich laufe ich vor etwas davon, dass ich mir selbst nicht erklären kann, aber ich weiß, dass es nicht mehr reicht, sich nur zu verstecken.

Meine Beine geben nach, aber mein Kopf nicht. Meine Lunge brennt. Feuerameisen krabbeln durch meinem Körper und setzen sich vor allem in meiner Lunge fest. Ich schnappe gierig nach Luft und wische mir den gesammelten Schweiß von der Stirn.

Weil ich nicht aufpasse, sehe ich die Stange vor mir nicht und laufe mit vollem Karacho rein. Ein dumpfes Geräusch halt durch die Straße. Ich taumle zurück, meine weichen Beine können mich nicht mehr halten und ich knalle auf den Hintern. Ich blinzle überrascht, hechle wild und gebe schließlich auf. Ich lege mich zurück und drücke mir die Hand an die schmerzende Stirn.

»Scheiße«, jaule ich. Die Tränen können nicht länger zurück gehalten werden. Zu lange halte ich schon alles zurück. Meine Sicht verschwimmt und Bäche rinnen über meine Wangen. Schnell verwandeln sie sich in Flüsse und kurz darauf brechen Wellen über meine Wangen. All die gesammelte Frustation, die Trauer und die Wut platzen aus mir mit einem Mal heraus.

Jemand räuspert sich und eine kleine Gestalt steht über mir. Ich blinzle die Tränen weg, aber es braucht eine kleine Weile, bis ich erkennen kann, dass die kleine Gestalt ein kleiner Junge ist.

»Was machst du da?«, fragt er mich neugierig.

Ich warte darauf, dass mich die bekannte Scham und Demütung packt, doch zurückbleibt nur ein wohliges Gefühl, welches an Freiheitserfüllung grenzt. Ich fühle mich befreit von all der Last, die ich für Jahre mit mir geschleppt habe.

»Liegen«, sage ich etwas benommen und streiche mir über die Stirn. Dahinter pocht es schmerzhaft. Ich habe mich ganz schön angehauen. Meine Dummheit spricht mal wieder für mich.

Er nickt verwirrt und spielt mit seinen Handschuhen. »Wo ist Jonas?«

»Jonas?« Ächzend setze ich mich auf und mustere ihn verwirrt. »Woher kennst du meinen Mitbewohner?«

Der kleine Junge sieht nervös zwischen mir und dem Haus auf der anderen Straßenseite her. »Wir waren zusammen Eislaufen. Onkel Finn redet viel von Jonas.«

Ich stöhne entnervt auf. »Finn. Du bist Sebastian, stimmt's?«

»Ja«, murmelt er. »Soll ich dir helfen, Jonas zu suchen?«

Ich schüttle vorsichtig den Kopf. »Nein. Ich werde gleich Nachhause gehen. Lass mich mich nur noch kurz ausruhen, okay?«

Der kleine Junge nickt und bevor ich richtig schauen kann, sitzt er auch schon neben mir und spielt mit seinen behandschuhten Fingern. Er summt die Melodie eines Kinderweihnachtsliedes. Ich habe keine Ahnung, was es genau ist, aber es hört sich bekannt an.

Ein in Karamell getauchter BackenzahnWhere stories live. Discover now