4.1 Warnung aus der Dunkelheit

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Die ordentlich aufgestellten Tischreihen und der strenge Blick der Lehrerin passten nicht zu den grauen Schriftzügen und Löchern, die sich an der pastellroten Wand neben Akin in der letzten Sitzreihe befanden. Der Matheraum wurde etwa hüfthoch von einer in die Jahre gekommenen Holzverkleidung gesäumt, auf der Penisse, Telefonnummern und Liebesbotschaften gekritzelt standen. Mit dem Kopf lehnte er auf seinen Oberarmen und konnte nur mit Mühe die Augen offenhalten. Die letzte Nacht hatten ihn erneut Albträume geplagt. Jedes Mal war er durch den Wald gerannt, auf der Flucht vor dem geisterhaften Mädchen und den flüsternden Stimmen.

Er hatte das Gefühl, seine Augenringe hingen ihm schwer ins Gesicht. Lange Nächte und wenig Schlaf waren ihm nicht unbekannt. Rausgeschlichen hatte er sich oft mit Saschas Hilfe, wenn sie eine neue Diskothek ausprobieren wollten oder sich bei Tony getroffen hatten, um den Abend auszuklingen. Doch nach keinem einzigen exzessiven Alkoholrausch hatte er sich je so elendig gefühlt, wie er es heute tat. Es war wie eine Mischung aus Grippe und Ohnmacht.

Irgendwo weiter vorne las gerade ein Mitschüler die Aufgaben im Mathebuch vor. »Gesucht ist die quadratische Funktion, welche die Punkte A, B und C durchläuft...«

Das leise Rauschen der Heizung wurde vom Kritzeln der Bleistifte auf Papier unterbrochen. Es roch nach Schweiß. Akin blinzelte. Die kahlen Äste der Bäume auf der anderen Seites des Fensters wiegten sich im Wind wie tanzende Marionetten. Letzte Blätter segelten den regenverhangenen Wolken entgegen, die wie dicke Schleier die Sonne verbargen. Das matschige Laub auf den Gehwegen schimmerte nass.

Seine Augen fielen ihm zu.

Plötzlich schien alles so weit weg. Er entspannte sich. Da war nur diese bodenlose Schwärze, in der er zu schweben schien. Endlos weit. Allmählich zeichneten sich Konturen ab. Grün. Braun. Etwas feuchtes strich über seine Wange. Dunkle Nadeläste versperrten ihm die Sicht.

Der Mond schien hell am Himmel und erleuchtete die kleine Lichtung in einem unheimlichen Blauton. Akin kroch aus dem Schutz der Fichte. Wenige Meter entfernt war eine Hütte aus vermodertem Holz. Moos und Feuchtigkeit fraßen sich wie Krebsgeschwüre durch die alten Latten, als holten sie der Natur zurück, was ihr einst genommen wurde. Blitze durchstießen die dichte Wolkendecke.

Er trat einen weiteren Schritt auf die Lichtung zu, stolperte nach vorne, als er mit dem Fuß in einer Mulde landete. Ein matschendes Geräusch erklang. Seine Mutter war damals mit ihm und Helena an die Nordsee gefahren, wo sie eine Wanderung durchs Wattenmeer gemacht hatten. Die Erinnerung an das Schmatzen, als sie knietief in den faul-riechenden Schlamm eingesunken waren, deckte sich mit dem Geräusch, das sein Turnschuh verursacht hatte. Der Stoff sog sich mit Kälte voll.

Als Akin zurückwich, den Blick auf den Boden gerichtet, konnte er in der Mulde nur schimmerndes Schwarz erkennen. Eine Pfütze, schoss es ihm durch den Kopf. Doch ein verzerrtes, buschiges Knäuel ragte aus dem Regenwasser – mit einem dürren Fransen am Ende, der sich dunkel vom Moos abhob. Er beugte sich vor. Unter den Geruch des Waldes mischte sich etwas Muffiges. Verrottetes. Sein Blick glitt in Richtung der Hütte und im schwachen Mondlicht erkannte er noch weitere schwarze Schatten. Auch wenn er sich unsicher war, welche davon vielleicht nur kleine Büsche oder Unebenheiten im Boden waren.

Die Tür zur Hütte flog auf. Ein Donnern hallte durch den Wald, als Holz auf Holz schlug.

Er zuckte zusammen. Niemand war zu sehen. Durch den Türrahmen hinweg konnte Akin nur Schwärze erkennen, die sich auszubreiten schien. Eisige Luft legte sich über die Lichtung wie Nebelschwaden. In der Ferne quietschten Scharniere, als würden alte Fensterläden im Wind schaukeln. Das Geräusch kam näher. Aus dem Schatten der Hütte trat eine undeutliche Gestalt, deren Gliedmaßen seltsam verwinkelt waren. Er hatte sich geirrt. Kein Quietschen, sondern verzerrtes Kichern.

Komm mit mir nach gesternWhere stories live. Discover now