1.2 Ankunft

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In der Dunkelheit war es schwer, etwas zu erkennen, und bei seinem Nokia-Mobiltelefon, das er von dem Nachbarn ein Stockwerk drüber überraschend vor zwei Monaten zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, war die Taschenlampe defekt. Er tastete nach seiner Sporttasche, in die er einige frische Klamotten und Zahnbürsten in weiser Voraussicht verstaut hatte, doch irgendwo zwischen der Rücksitzbank und dem Plastikbeutel mit den Schuhen seiner Mutter musste sie sich verklemmt haben, denn Akin zerrte erfolglos an dem Tragegurt.

»Räum den Kofferraum doch einfach aus, wenn du nicht drankommst.«

Als Akin sich ruckartig zu der rauen Stimme hinter sich umdrehte, stieß er mit dem Kopf gegen den Rahmen des Kofferraums. »Verdammt«, krächzte er.

»Wo sind die Sachen, die ihr braucht? Susanne ist müde und schon ins Haus gegangen. Du doch sicher auch?«, fragte Viktor und zog einen Mundwinkel nach oben.

»Ich schaff das schon.« Akin griff nach der vorderen Reisetasche, um sie aus dem Kofferraum zu heben. Nur hatte er ihr Gewicht unterschätzt und so zog er sie lediglich so weit nach vorne, dass sie über den Rand des Wagens zu kippen drohte. Schnell ließ er den Griff los, stemmte beide Hände gegen die Seite der schweren Tasche.

»Das wird so nichts, Bengel.« Der Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter, schob ihn ohne ein weiteres Wort zur Seite und hievte mit kräftigem Zupacken die Sachen Stück für Stück aus dem Kofferraum, bis die Sporttasche freigeräumt war.

»Packen wir den Rest zurück in den Wagen?«

Es hatte nicht wie eine Frage klingen sollen, doch Viktor überging ihn ein weiteres Mal, indem er nach einem der Kartons griff und ihn in Richtung Veranda davontrug.

»Haste Recht«, wisperte Akin mit vor Wut unterdrückter Stimme. »Jetzt können wir es gleich ins Haus tragen, wo wir schon dabei sind.«

Dreimal musste Akin dem schwachen Schein der Lampe entgegen gehen, die an einem langen Holzbalken baumelte, umgeben von vergilbt-eingerissenem Wellblech, bevor endlich all ihre Umzugsgüter auf der Veranda standen. Es erinnerte ihn an den Sommer vor sechs Jahren, als sie aus der Wohnung von dem damaligen Ex-Freund seiner Mutter geflogen und vor dem zum Anbeten großen Haus seiner Tante gestrandet waren. Unter ihrem wenig begeisterten Blick hatte es nur drei Wochen gedauert, bis sie eine neue Wohnung in der Weststadt zwei Straßen weiter von Helena gefunden und bezogen hatten. Er war mehr als zuversichtlich, dass sich die alte Geschichte wiederholen würde.

Viktor stand noch immer am Kofferraum, nach dem letzten Karton greifend, als sich die dunkelbraune Eingangstür öffnete und seine Mutter ihren Kopf nach draußen steckte.

»Ich glaube, mir ist die Tür ins Schloss gefallen. Aber wie ich sehe, wart ihr fleißig beschäftigt. Wie lieb, dass ihr nun doch alles ausgeräumt habt, Viktor.« Der Mann stieg gerade die Stufen der Veranda nach oben. »Ich habe einen Blick in deinen Kühlschrank geworfen, um zu schauen, was wir zum Abendbrot essen können.«

»Ich müsste mal aufs Klo«, unterbrach Akin sie. »Möglichst sofort.«

»Im zweiten Stock«, entgegnete Susanne und drehte sich nach hinten um, sodass sie den Blick auf eine breite Treppe im Eingang frei machte.

Er war bereits an ihr vorbeigelaufen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, begleitet von ihrem empörten Ausruf, er solle sich die dreckigen Schuhe ausziehen. Die erste Tür links stand einen Spalt breit auf. Nach dem Betätigen des Lichtschalters stellte er erfreut fest, dass es sich um das Badezimmer handelte. Er überquerte die wenigen Meter bis zur Toilette, hob den Deckel, der mit rotem Plüsch überzogen war, und öffnete ruckartig seinen Hosenstall, um sich erleichtern zu können.

Komm mit mir nach gesternWhere stories live. Discover now