3.2 Im Wunderland

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»Ich dachte, ich habe vielleicht einen Tinnitus, aber dann war das nur die Schulklingel gewesen«, versuchte Akin, der aufkeimenden Panik in Henry mit etwas Geplänkel Einhalt zu gebieten. Er hatte jetzt Biologie und war nicht erpicht auf das Sezieren von irgendwelchen Fischen. Da könnte er dann dem gesamten Kurs zeigen, wie stark sein Magen war.

Sie gingen den Sandweg zu den Tischplatten zurück, obwohl Henry sich zunächst Mühe gegeben hatte, zu rennen. Da er nicht viel schneller als Akin im zügigen Lauftempo war, ließ er es bereits nach wenigen Metern schweratmend wieder sein. Als sie die Treppe passiert hatten, konnten sie erkennen, dass der gesamte Schulhof menschenleer war. Offenbar hatte Henry nicht übertrieben.

»Bis nachher«, verabschiedete sich jener in diesem Augenblick von ihm und steuerte den rechten Gebäudeeingang an, der zu den Computer-Kabinetten führte.

Akin ließ seinen Blick noch einige Sekunden auf Henry ruhen, ehe er die letzten Meter zu der blauen Tür neben der Turnhalle überbrückte. Die Biologieräume waren gleich hier im Untergeschoss seitlich des Ganges. Nur wusste er nicht, wo genau sich der Raum befand, in dem er jetzt Unterricht hatte. Und wo lag überhaupt sein Rucksack und seine Sporttasche? Er hatte sich schnell von der Tatsache anstecken lassen, dass hier alle ihre Habseligkeiten offen in den Fluren liegen ließen. An seiner alten Schule wäre so etwas undenkbar gewesen, wenn er darüber nachdachte, wie oft er selbst etwas gestohlen hatte, doch in Altlitz und Umgebung mussten die Kinder so vertrauensdusselig aufgezogen worden sein, dass es nur selten zu solchen Vorfällen kam.

Während er noch überlegte, ob er seinen Rucksack im Eingangsbereich bei den Aquarien abgestellt hatte, öffnete sich eine Tür keine fünf Schritte vor ihm. Schüler und ein Lehrer traten hinaus. Ein Junge, der mindestens einen Kopf kleiner als der Rest der Klasse war, bildete den Abschluss der Gruppe. Akin wurde bewusst, dass es sich bei der Traube an Menschen um seinen Biologiekurs handeln musste, denn obwohl er keinen einzigen Namen kannte, kamen ihm die Gesichter dunkel bekannt vor. Möglichst unauffällig folgte er ihnen.

»Weißt du, wohin wir gehen?«, fragte er, als er zu dem kleineren Jungen, der eine quietschgelbe Regenjacke und eine alte Ledertasche über den Arm trug, aufgeschlossen hatte.

Der Junge starrte weiterhin auf den mit Linoleum ausgelegten Fußboden, antwortete allerdings: »Ins Labor.«

»Verdammt. Ich dachte, wir bleiben im Raum«, stöhnte Akin. So würde er sich nicht im Schutz des großräumigen und vor allem weniger übersichtlichen Klassenzimmers vor dem bevorstehenden Sezieren drücken können.

Der Junge schaute auf und fixierte direkt sein Gesicht. Die intensive Musterung war Akin unangenehm. »Du magst es nicht?«

»Was?« Er wusste, worauf der Junge anspielte, doch es zu zugeben, fühlte sich an, wie öffentlich einzugestehen, dass er ein Schlappschwanz war.

»Tiere aufschneiden.«

Er zuckte mit den Schultern. »Gibt es Menschen, die das mögen? Wir haben doch unsere Lehrbücher, in denen es genug Abbildungen gibt. Das ist Verschwendung von wertvoller Unterrichtszeit, wenn du mich fragst«, versuchte er sich, geschickt aus der Affäre zu ziehen. »Außerdem, Fisch stinkt.«

Es war offensichtlich, dass der schmächtige Junge etwas auf seine Worte erwidert hatte. Seine Lippen hatten sich bewegt. Aber das, was er hatte sagen wollen, war im lauten Gemurmel ihrer Mitschüler untergegangen. Der Junge griff in die Tasche seiner beigen Cordhose und zog eine schmale Metalldose aus dieser hervor. Darin befanden sich farblose, trübe Bonbons, von denen er sich einen in den Mund steckte. Und noch einen. Es roch nach Pfefferminze.

Akin ließ seinen Blick über die Plakate wandern, die rechts und links den Schulflur in den buntesten Farben verhangen. »Sag mal«, setzte Akin an. »Magst du das eigentlich? Also Fische zu sezieren.«

Komm mit mir nach gesternWhere stories live. Discover now