2.1 Verwesung am Mittagstisch

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Der schmale Sandweg zu seinen Füßen führte ihn durch dornige Büsche und die tiefliegenden Äste von Fichten und Kiefern. Das Licht des Mondes schien kaum hell genug, um die Schwärze der Nacht zu vertreiben und die Umrisse der umliegenden Sträucher und Bäume abzuzeichnen. Sein Körper bebte vor Kälte. Der Wind jagte durch die Wipfel der Tannen und ließ sie bedrohlich am Horizont entlang wiegen wie Schiffe in tosender Brandung. Regen peitschte ihm ins Gesicht.

Hinter ihm knackten Zweige. Er musste weiter, bevor sie ihn einholte. Seine Beine brannten vor Erschöpfung, Äste schlugen ihm ins Gesicht, doch er durfte nicht stehen bleiben, musste weiter rennen. Raus aus dem Wald. Dicke Wurzeln wucherten über den Sandweg. Wenn er nicht aufpasste, nur eine Sekunde lang, würden sie ihn niederstrecken. Er stolperte über eine Mulde, griff nach einem Ast, um sich zu halten. Nur immer weiter.

Das Knacksen kam näher. Akin spürte den eisigen Atem in seinem Nacken. Seine Lunge schmerzte bei jedem Luftzug. Geflüsterte Worte fegten durch die Nacht, undeutlich und vielstimmig wie ein Geisterchor. Er verstand nicht, was sie sagten, doch ihre vibrierenden Stimmen trieben die Angst durch seine Adern.

Plötzlich hatte er das Gefühl zu fliegen. Sein Fuß und sein Gesicht glühten vor Schmerzen, als er mit dem Kopf auf den harten Erdboden schlug. Dreck klebte ihm an den tränenfeuchten Augen. Ein Zittern erfasste seinen gesamten Körper, als er kalte, dürre Finger über den klammen Stoff seiner Hose streichen spürte.

Sieh nur.

Sieh, wozu er mich gezwungen hat.

»Nein«, schrie Akin. »Bitte nicht.«

Regentropfen liefen seine Wangen hinab. Es roch nach Moos und Schlamm – und Verwesung. Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass es sogar sein eigenes klopfendes Herz übertönte.

Die Finger schlangen sich um sein Fußgelenk.

Er versuchte zu treten und um sich zu schlagen, doch er traf nur ins Leere. Blut benetzte seine Lippen und hinterließ einen metallischen Geschmack auf seiner Zunge. Akin kniff die Augen fest zusammen, als er den eiskalten Atem auf seiner Wange spürte. Dann war die Hand verschwunden.

Seine Knie brannten. Er drückte sich vom Boden hoch und stütze sich dabei an einer feuchten Wurzel ab. Der Wald lag in Schwärze. Dunkle Schatten tanzten vor seinen Augen. Er wusste nicht, ob es Blätter und Äste oder Menschen waren.

Ein Kichern erklang. So hoch und hell, dass es ihm durch die Knochen fuhr.

Sieh, was sie getan haben.

Die Stimmen wurden lauter. Ihm war, als würden seine Ohren von Küchenmessern durchstochen werden.

Ich muss fort. Ich will für immer bei dir sein.

Warum tut es so weh?

Ein Röcheln. Rasselnde Atemgeräusche, die klangen, als würde die Luft aus Wasser bestehen.

Akin presste sich die schlammverschmierten Hände gegen die Augen. Tränen rannen durch seine Finger hindurch, sein Gesicht entlang. »Hört auf«, rief er immer wieder. »Hört auf, hört auf, hört auf.«

Die Stimmen verstummten. Nur das leise Rascheln und Knacken der Blätter und Äste im Wind war zu hören. Sein Herz pochte laut.

Eine kühle Brise streifte über seine Lippen. Hauchzart. Der Kuss eines Todesengels. Als Akin langsam seine Augen öffnete, blickte er in tiefschwarze Dunkelheit. Fauliger Atem stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Sieh nur.

Sieh, wozu er mich getrieben hat.

Ein markerschütternder Schrei hallte durch die Nacht. So laut und voller Angst, dass es ihm die Kehle zerriss.

Komm mit mir nach gesternWhere stories live. Discover now