Kapitel 9

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Am nächsten Tag beim Frühstück reichte Claudia Eric die aktuelle Ausgabe einer Zeitung: »Als du geschlafen hast, habe ich ein bisschen recherchiert, wie, und ob überhaupt, die Presse über den Vorfall mit dem Container und der Chinesischen Botschaft berichtete. Schau dir den kleinen Artikel am Rande der siebten Seite an.«

Eric schob sich ein bisschen weg vom Tisch und machte die Zeitung auf. Er mochte immer breite Qualitätszeitungen, auch im Internet-Zeitalter, als sie um ihr Überleben rangen. Er meinte, das Gefühl vom Lesen und Wahrnehmen des Textes ist hochwertiger und intensiver, wenn man das gedruckte Wort auf dem Papier liest. Auf dem Bildschirm wirkten die Informationen für ihn oberflächlicher und hatten keine gute Struktur. Aber kannte Claudia seine Vorlieben schon so gut? Sie hätte ihm genauso gut einen Artikel auf ihrem Tablett zeigen können, sie schien ja alles nur auf diesem Ding zu lesen. Aber sie reichte ihm eine gedruckte Kopie. Und das, obwohl eine gedruckte Zeitung, insbesondere in einem breiten Format wie diese, schwierig zu lesen war, wo jetzt der nicht so ganz geräumige Tisch mit viel Geschirr für ihre Croissants, Obstsalat, Omelett mit Speck, Gemüsesalat, Teekannen und Kaffeetassen bedeckt war, also er musste die Zeitung in der Luft aufrecht halten, und trotzdem war ihm das lieber. Claudia hatte Recht.

Im Artikel stand nicht viel, aber er erwähnte den Vorfall mit dem Container eindeutig und unmissverständlich: Nach der Information, die der Redaktion vorliege, habe tatsächlich eine Person das Gebiet der Bundesrepublik auf eine obskure Weise verlasen. Es handele sich dabei höchstwahrscheinlich um einen chinesischen Dissidenten, der kritische Schriften über die kommunistische Partei und das Regime in China veröffentlicht haben soll und in Deutschland politisches Asyl gesucht hatte. Dieser sei gefunden und gegen seinen Willen auf diese geheime Weise ins Flugzeug zurück nach China transportiert worden, denn Deutschland hätte ihn bestimmt nicht ausgeliefert.

Eric faltete die Zeitung sorgfältig wieder zu. Später würde er bestimmt auch weitere Artikel lesen, aber nicht jetzt, denn er war mit seiner Omelette noch nicht fertig. »Also es war doch nicht Steven«, kommentierte er das gelesene knapp.

»Das, zumindest, behauptet der Autor des Artikels. Wollen wir mit ihm reden?«

»Ja, warum nicht... wenn sich das denn organisieren lässt.«

Claudia schmunzelte. »Es lässt sich sehr viel organisieren. Nach dem Frühstück mache ich einen Termin aus, vorzugsweise für heute.«

»Ja, wäre toll wenn es klappt, danke«, antwortete Eric etwas unsicher.

*

Und es hat tatsächlich geklappt. Der Autor des Artikels war erstaunlicherweise bereit, sich mit ihnen noch am gleichen Nachmittag zu treffen. Der Treffpunkt war der Neptunbrunnen im kleinen Park am Stachus, weil, so der Mann, er in der Nähe gerade zu tun hatte und sie dort diskret reden könnten.

Eric und Claudia erreichten den Treffpunkt einige Minuten zu früh und setzten sich auf eine der Bänke, die den Brunnen umgaben. Fast alle Bänke waren besetzt aber es störte nicht, denn die Distanz zwischen ihnen war groß genug für eine gewisse Intimität. Neben einer Bank, die noch frei war, durchwühlten zwei Krähen den Inhalt eines Mülleimers, um Essbares zu finden.

»Schade, dass wir kein Brot oder Kerne dabei haben«, sagte Claudia, während sie den Krähen zuschaute. »Wusstest du, dass Krähe einzelne Menschengesichter und bis zu 250 Begriffe unterscheiden können? Sie sind eine der klügsten Tierarten überhaupt. Einige lernen, zum Beispiel, die Tüten mit Fast-Food Markenlogos zu erkennen. Zu diesen greifen sie dann zuerst. Faszinierende Tiere. Und so elegant. Nur sind sie leider ziemlich scheu«, sinnierte sie mit dem Blick zu den Vögeln gerichtet.

»Ich weiß, Füttern geht nur so, dass du das Essen hinlegst und dich entfernst. Aber wenn sie so klug sind, dann sind sie sowieso nicht auf unser Futter angewiesen, oder?«

SeelenlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt