Kapitel 5

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Am nächsten Morgen wachte Eric auf im Bett seines Hotelzimmers, als die Sonne schon ganz hoch war aber durch den dichten Stoff der Fenstervorhänge kaum wahrnehmbar. Wegen dieser Vorhänge hatte er keinen Zeitbegriff und schaute sofort auf die Uhr. Es war kurz nach Elf. Er hatte es nicht eilig aufzustehen und streckte sich gemächlich unter der dünnen Decke. Er fühlte sich glücklich. Seine Definition des Glückes war jene angenehme Mischung aus Erinnerungen und Vorfreude, die man verspürt, wenn man am Vortag etwas ganz Besonderes und Schönes erlebt hat und auch der neue Tag etwas genauso Gutes verspricht.

Getrunken hatte er gestern zwar ordentlich, aber es gelang ihm noch, in seinem persönlichen Rahmen des erträglichen zu bleiben, so dass er sich an jede Einzelheit des vergangenen Abends klar erinnern konnte: als sie nach dem Barbesuch und kurzer Tanz-Eskapade, ohne etwas vorab zu besprechen, in genau dieses Zimmer kamen, war das der Anfang einer Nacht, die alle bisherigen Nächte seines Lebens übertreffen würde. Es war, als ob Claudia seinen Körper besser kannte als er selbst, als ob sie seine Gedanken lesen konnte und als ob sie ganz genau wusste, welche millimetergenaue Bewegung welche Reaktion in ihm hervorrufen konnte. Es war noch besser als das, was er sich vorher beim Fantasieren ausgemalt hatte. Sie ließen sich Zeit und ihm gefiel, dass er mit ihr noch fast zum gleichen fähig war, wie in seinen studentischen Zeiten. Was zwangsläufig nicht bedeutete, dass er Claudia gleiches Erlebnis schenken konnte, wie sie ihm. Aber in diese Richtung nachzudenken wollte er erst gar nicht. Man könnte ja schon damit anfangen, dass das Hotel gewiss nicht den ausreichenden Standard für Claudia hatte. Und auch Eric an sich war immer noch der gleicher Typ von nebenan, ob mit seiner Kleidung oder ohne. Wie schnell sich die Glückseligkeit nur zerstreuen kann... Stopp. Wieso sich das schöne Nachgefühl zu versauen, wenn Claudia sich während des ganzen Abends nichts davon anmerken ließ? Und das ist das einzige was zählt - ihre Sicht der Dinge und nicht seine. Für sie war er aus irgendeinem Grund interessant, anziehend und kurzum gut genug. Oder doch nicht? Schließlich, als sie beide in einer Umarmung beinahe eingeschlafen waren, stand Claudia plötzlich auf und erklärte, dass sie jetzt weg müsse und sich am nächsten Tag bei ihm bestimmt melde. Ein paar Minuten darauf war sie weg und Eric schlief wie tot, bis zu dieser Stunde. Wie spät ist es jetzt? Ach ja, bereits halb Zwölf. Wohl an der Zeit, aufzustehen. Aber wieso? Er wusste doch nicht so richtig, was er heute machen werde. Sie soll sich bei ihm melden, hat sie versprochen. Bis jetzt hat sie ihr Wort immer gehalten. Aber wie soll das eigentlich gehen? Sie haben keine Kontaktdaten ausgetauscht. Auch hat er noch nie gesehen, dass Claudia ein Handy bei sich trug.

Als Antwort auf seine immer beunruhigend werdenden Gedanken klingelte sein Hotel-Telefon. Da es auf einem kleinen Tisch in der anderen Zimmerecke stand, sprang Eric aus dem Bett und rannte zum Apparat. Er nahm den Hörer begierig ab.

Es war die melodische Stimme von Claudia, die Eric aufatmen ließ und gleichzeitig sein Puls in die Höhe trieb: »Guten Morgen, Eric, ich hoffe ich habe dich nicht geweckt? Ich kenne deine Schlafmuster leider noch nicht gut genug...«

»Guten Morgen Claudia, nein, ich war schon wach. Und ich habe gerade an dich gedacht. Bist du gestern gut nach Hause gekommen?«, fragte Eric erfreut.

»Natürlich. Hast du heute Lust, mehr über meine Arbeit zu erfahren? Gestern, zumindest, hast du einen solchen Wunsch geäußert. Dem kann ich gerne nachkommen und dir etwas zeigen.«

»Aber sehr gerne!« Eric strahlte. Im war es mittlerweile egal, was genau sie heute machen werden und was ihm Claudia zeigt oder auch nicht, solange sie sich treffen. Und wenn er dabei noch die Möglichkeit haben werde, etwas mehr über sie zu erfahren, was kann man sich noch mehr wünschen.

»Wir treffen uns auf der Piazza di Spagna bei der Treppe, um Zwei Uhr nachmittags, wenn dir diese Uhrzeit passt. Du kannst bequem an der U-Bahn-Station Spagna aussteigen, die schöne Aussicht genießen, und die Treppe herunterlaufen.«

SeelenlosWhere stories live. Discover now