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Mit gefesselten Händen saß ich in einem der Häuser, wütend und mit dem Blick aus dem Fenster auf die Hauptstraße gerichtet. Aus irgendeinem unklaren Grund steckten sie mich nicht zu den anderen Frauen und Mädchen, die in einer der Häuserruinen gegenüber untergebracht waren.
Ich beobachtete skeptisch die Männer, die draußen mit den Highwaymen versammelt waren und es sah beinahe so aus, als würden die Plünderer vereinzelte von ihnen rekrutieren. Entweder bekamen sie eine Waffe in die Hand oder sie wurden mit Fesseln abgeführt, wohin wusste ich nicht. Ich ließ mich auf den Boden sinken und seufzte. Wenn es wirklich Cannon war, der mich festgehalten hatte, wieso hatte er dann nichts gesagt? Ich wusste nicht ganz warum, doch irgendetwas in mir sehnte sich danach ihn zu sehen und mich zu versichern, dass er wohl auf ist. Vielleicht hatte Isaac mit seinem Tod ja doch nicht gelogen, sondern nur mit dem angeblichen Untergang der Highwaymen.
Plötzlich hörte ich wie sich der Schlüssel im Schlüsselloch der Tür umdrehte, hinter welcher ich eingesperrt war. Einer der Highwaymen trat herein, setzte sich mit einer merkwürdig vertrauten Gelassenheit auf den Metalltisch, der an der Wand stand und zog sich das dunkelrote Tuch ab, welches sein Gesicht vermummt hatte.
Für einen Moment blieb ich regungslos am Boden sitzen, bis ich realisierte, wer dort vor mir saß.
„Hey Riv." begrüßte mich Cannon mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Es war, als hätte irgendeine übernatürliche Macht meine Gedanken von vorhin gelesen. „Hallo Cannon." Auch wenn ich mich freute ihn zu sehen, ich musste mich zusammenreißen möglichst kalt zu wirken und meine Emotionen beiseite zuschieben, schließlich hatten er und seine Leute mein neues Zuhause eingenommen und meine Freunde in Fesseln gelegt. „Hast du mich vermisst?" fragte er und ich verdrehte nur die Augen. „Keinesfalls. Ich meine, du hast mich mit meinem verletzten Bein einfach im Wald zurückgelassen, obwohl du wusstest es hätte meinen Tod bedeuten können." Er schüttelte protestierend den Kopf. „Das stimmt nicht, mir war klar, dass du das auch alleine packst. Überlebenskünstlerin, weißt du noch?" Mit einem verächtlichen Schnauben drehte ich mich von ihm weg. „Bist du deswegen hierher gekommen?" Er schwang sich nun mit einer eleganten Bewegung vom Tisch und kam geradewegs auf mich zu. „Nein. Eigentlich wollte ich dir das hier wiedergeben. Das hast du verloren, als ich dir meine Waffe an den Kopf gehalten hab." Ich schaute ihn kritisch an und beobachtete, wie er mein Jagdmesser aus der Tasche zog. Eher gesagt sein Jagdmesser. „Das gibst du mir einfach so wieder?" fragte ich mit einem misstrauischen Unterton. Schmunzelnd schüttelte er erneut den Kopf. „Unter einer Bedingung." Er machte eine kurze Pause. „Isaac möchte, dass du dich uns anschließt." Nun konnte ich mir ein leicht verachtendes Lachen nicht verkneifen. „Natürlich. Wieder einmal befolgst du nur Isaacs Befehle. Du sollst mich davon überzeugen stimmt's?" Er wollte gerade etwas sagen, doch dazu ließ ich es nicht kommen. „Wenn das der einzige Grund ist aus dem du hier bist, darfst du gerne wieder gehen, denn eher sterbe ich als mich euch anzuschließen." Seufzend schloss Cannon die Augen. „Witzig, dass du das so sagst. Genau das wäre nämlich die Alternative. Isaac wird alle umbringen lassen, die sich weigern, da er keine Vorräte verschwenden möchte nur um Gefangene am Leben zu halten." Nun schwieg ich eine Sekunde und im meinem Gesicht machte sich eine Spur von Entsetzen und Ungläubigkeit breit. „Das kann nicht euer Ernst sein. Ihr wollt all diese Menschen eiskalt hinrichten?" Mein Gegenüber schnaubte zynisch. „Riv, was denkst du, was wir unser ganzes Leben lang getan haben?"
In den paar Tagen in unserer Höhle hatte ich tatsächlich vergessen, dass er genauso ein kaltblütiger Mörder war, wie die anderen Highwaymen. Ich hatte mich zu sehr davon blenden lassen, dass er mir mein Leben gerettet hat, obwohl es ihm dabei nur um sich selbst ging. Dieses Mal wusste ich nicht, was ich machen sollte. Natürlich wollte ich überleben, doch ich wusste, dass Ridge und die anderen niemals zustimmen würden sich den Plünderern anzuschließen. Vielleicht schaffte ich es ja irgendwie, sie zu überreden.
Cannon kam noch einen Schritt auf mich zu, sodass kaum eine Handbreite Platz zwischen uns blieb. Er nahm meine gefesselten Hände und trennte mit dem Messer das Seil durch. „Überleg es dir, Riv. Ich will dich nicht töten müssen." Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Dann tu es nicht." Er schaute mir nun direkt in die Augen und legte mir seufzend seine Hand auf die Wange. „Ich hab keine Wahl. Du weißt doch, sie sind meine Familie." Mein Blick glitt nachdenklich zu Boden, doch er hob mit seinem Daumen mein Kinn wieder an. „Vielleicht kann ich dich ja anders umstimmen..." Er nahm sanft mein Gesicht in seine Hände und seine Augen wanderten hinunter zu meinem Mund. Ohne Weiteres kam er näher und berührte mit seinen warmen, weichen Lippen meine eigenen. Vollkommen perplex und kaum fähig mich zu bewegen stand ich da. Ein ungewöhnliches Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und in kürzester Zeit fühlte ich es im ganzen Körper. Ohne, dass ich es überhaupt merkte erwiderte ich den Kuss und genoss gleichzeitig die Wärme von Cannons muskulösem Körper, sowie seinen unwiderstehlichen Duft. Als er seine Lippen von meinen löste, blickte er mir noch immer in die Augen. Ich versuchte wieder klare Gedanken zu fassen, doch dies gestaltete sich als gar nicht mal so einfach. „Bevor ich mich entscheide, möchte ich  meine Freunde noch einmal sehen." gab ich mit einer plötzlich unsicheren, leicht zitternden Stimme von mir, woraufhin Cannon nickte. „In Ordnung." Etwas widerwillig löste ich mich aus dem sanftem Griff seiner starken Hände und er deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. Zuerst führte er mich in die Ruine, in der die Frauen und Mädchen untergebracht waren. Es war der ehemalige Supermarkt der Stadt, der durch die Tatsache, dass er nur einen Eingang hatte, leicht zu bewachen war. Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich Marleigh und Liberty zwischen den anderen, an einer Wand kauernd und mit einem hoffnungslosen Ausdruck in den Augen. Als sie mich sahen, erhellten sich ihre Minen und sie nahmen mich beide sofort in den Arm. „River, wo warst du? Warum bist du nicht gefesselt?" fragte Marleigh, doch ich winkte ab. „Ist nicht wichtig. Ich muss dringend mit euch sprechen." Sie wechselten unsichere Blicke, nickten aber dann. „Ich möchte, dass ihr euch den Highwaymen anschließt. Sie werden euch fragen und dann werdet ihr Ja sagen. Das ist eure einzige Chance zu überleben." Liberty schaute mich misstrauisch an, doch ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Bitte, ihr müsst mir vertrauen." Marleigh, deren Gesichtsausdruck ich erst nicht deuten konnte, nickte mit einer unerwarteten Entschlossenheit. „In Ordnung. Wir werden es tun." Liberty wollte widersprechen, doch die Jüngere hielt sie mit einem eindringlichen Blick davon ab. Jetzt gab auch die Pinkhaarige mir mit einem knappen Kopfnicken zu verstehen, dass sie einverstanden war. Vermutlich sträubte sich jedes einzelne Haar an ihrem Körper dagegen, doch die Hauptsache war, dass ich wusste sie würden überleben. „Danke." sagte ich leise, während ich beide nochmal in die Arme schloss. Keinesfalls hätte ich erwartet, dass es so einfach werden würde. „Bist du fertig?" ertönte Cannons ungeduldige Stimme an der Tür, woraufhin ich mich wieder auf den Weg zu ihm machte. Die anderen Frauen schenkten mir nur unverständliche Blicke und ich wusste, dass sie dachten ich würde mit den Plünderern unter einer Decke stecken. Natürlich, schließlich trug ich keine Fesseln mehr und es sah für sie so aus, als konnte ich mich frei bewegen.
Ich ging durch die Tür und ließ meinen Blick durch die wenigen Männer schweifen, die noch immer auf der Hauptstraße standen und von den Highwaymen bewacht wurden. Ridge stand ein wenig abseits und ohne zu Zögern eilte ich zu ihm hin als ich ihn erblickte. „River!" rief er mit erleichterter Stimme und ich schloss ihn fest in die Arme. „Ridge, hör mir bitte gut zu." begann ich, als ich wieder von ihm abließ. „Wir haben nicht viel Zeit, deswegen möchte ich, dass du das was ich dir jetzt sage, nicht in Frage stellst." Er hob etwas irritiert eine Augenbraue. „Du musst dich den Plünderern anschließen." Er sagte einen Moment lang nichts, als er plötzlich anfing zu Schmunzeln. „River, das habe ich schon längst." Nun war ich diejenige, die vollkommen verwirrt eine Augenbraue hob. „Im Ernst?" Er nickte und ich blickte ihn nur sprachlos an. „Überleg doch mal, sie sind die gefürchtetsten Männer des gesamten Landes. Wenn wir Seite an Seite mit ihnen kämpfen haben wir viel höhere Überlebenschancen." Damit hatte ich nicht gerechnet. Er wusste, welche Mittel und Wege sie nutzten um ihre Ziele zu erreichen und trotzdem zögerte er keine Sekunde sich ihnen anzuschließen? „Und was ist mit Kyree?" Ridge nickte in den hinteren Teil der Stadt. „Er war derselben Meinung. Er sucht mit ein paar anderen bereits passende Quartiere für alle." Ich wollte gerade etwas sagen, da unterbrach mich Cannon von hinten. „Deine Freunde sind scheinbar alle vernünftig, nun kommt es auf dich an." Er legte mir wohlwollend die Hand auf die Schulter und blickte mich mit seinen grauen Augen an. Seine Berührung ließ mich kaum sichtbar zusammenzucken. „Komm schon, Riv, du weißt wir beide wären ein gutes Team." Als Cannon diese Worte aussprach, spürte ich Ridges fixierenden, misstrauischen Blick, der auf mir lag. Ich schloss für einen Moment die Augen, bevor ich seufzend durch die Häuserruinen der Stadt schaute. Die einst so belebten Gassen waren beinahe totenstill und ein beklemmendes Gefühl durchfuhr daraufhin meinen Körper. „Ich werds nicht tun." Ridges Misstrauen verwandelte sich plötzlich in pures Unverständnis und auch Cannon ließ seinen Blick seufzend zur Seite wandern. „Dann weißt du ja was dich erwartet." Ich bildete mir ein, einen Hauch von Kummer aus seiner Stimme herauszuhören, doch ich war mir nicht sicher. Ridge schüttelte nun protestierend mit dem Kopf. „Verdammt, River, was soll denn das?"
Ohne darauf zu reagieren, sah ich zu Isaac, der aus der Ferne mit demselben autoritären, aufrechten Gang wie immer auf uns zukam. „Hast du dich entschieden?" fragte er ohne Weiteres, woraufhin ich ihm ein kühles Nicken schenkte. „Ihr werdet mich wohl töten müssen." Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich hab auf eine andere Antwort gehofft." Dann zückte er eine Waffe aus der Halterung an seinem Gürtel, lud nach und zielte. Zu meinem Entsetzen allerdings nicht auf mich. Der Lauf richtete sich erst auf Cannon und dann auf Ridge, dann wieder auf Cannon. Die Augen der beiden weiteten sich schockiert und auch ich verstand einen Moment lang nicht was vor sich ging. „Wen von beiden muss es erwischen, dass du deine Meinung änderst, hm?" Meine Hände begannen zu zittern und mein Atem wurde sichtbar schneller. Er überlegte einen Moment. „Cannon würde ich nur ungern entbehren. Lieber ihn?" Er packte Ridge und hielt ihm die Waffe an den Kopf. „3...2...1..." „Stop!" Völlig geschockt und mit rasendem Herzschlag stand ich da. „Scheiße, von mir aus." entgegnete ich schließlich. Ridge schaute mich dankbar an und auf Isaacs Lippen bildete sich ein triumphierendes Lächeln. „Na siehst du, war gar nicht so schwer."

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