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„Aua!" zischte ich durch meine aufeinander gepressten Zähne. Ich knickte ein und griff gezielt nach Cannons stützendem Oberarm. Sofort half er mir mich wieder aufzurichten. „Reiß dich zusammen, River. Noch einen Versuch." Ich nickte und tat einen entschlossenen Atemzug. Das konnte doch nicht so schwer sein. Ich setzte vorsichtig mein linkes Bein auf. Schmerzen fuhren durch meinen Oberschenkel, doch ich versuchte mit geballten Fäusten dagegen anzukämpfen. Ich musste es nur schaffen aufzutreten und einen einzelnen Schritt zu gehen, ohne mich dabei an Cannons Arm zu klammern, als wäre dieser mein eigener Überlebenswille. Ich verlagerte mein Gewicht nach und nach auf das verletzte Bein und biss erneut die Zähne zusammen. „Scheiße!" fluchte ich und vor Schmerzen lief mir eine winzige Träne über die Wange. Doch es funktionierte. So schnell wie ich konnte, zog ich mein anderes Bein hinterher, sodass ich wieder sicher darauf stehen konnte. „Na siehst du, geht doch. Du musst nur jeden Tag ein bisschen üben." Ich nickte und griff nach den Krücken, die er mir aus einfachen Stöcken gebaut hatte. Sie waren nur für den Übergang, doch dank ihnen konnte ich mich immerhin alleine fortbewegen. „Ich werd uns etwas zu Essen beschaffen, am besten bereitest du schonmal das Lagerfeuer vor." „In Ordnung." Cannon schnappte sich sein Maschinengewehr und verschwand im Dickicht des Waldes.
Ich versuchte währenddessen Äste und Stöcke zu sammeln, die ich auf einem kleinen Haufen stapelte. Es war nicht einfach sich mit dem verletzten Bein und den Krücken hinzuknien, doch es gestaltete sich als gutes Krafttraining. Es dauerte nicht lange, da hatte ich genug. Mein Magen begann langsam zu knurren und ich hoffte, Cannon würde etwas Vernünftiges zu Essen mitbringen. Eine Stärkung würde uns beiden ganz gut tun, denn wir hatten seit Tagen nichts gegessen.
Nach ein paar Stunden hörte ich dann ein Rascheln aus den Büschen. „River, du glaubst nicht was ich gefunden hab!" tönte es in meine Richtung und kurz danach stolperte Cannon aus dem Wald heraus. Er hielt einen gefüllten Rucksack in der Hand und warf ihn vor mir auf den Boden. Heraus rollten Konserven, sowie Flaschen, die mit Wasser gefüllt waren. „Wo hast du das her?" fragte ich überrascht und Cannon grinste breit. „Hinter dem Wald ist eine Straße. Ich bin ihr eine Weile gefolgt und da stand plötzlich eine alte Tankstelle. Es ist alles voll mit Dosenfutter, Wasser und sogar Alkohol. Ich konnte leider nicht mehr tragen, aber wir müssen unbedingt nochmal dahin." Ich lächelte freudig. „Das hört sich wirklich gut an." Er zog sein Messer aus seiner Tasche und öffnete dann eine der Dosen. Es sah aus wie Erbsensuppe oder etwas in der Art, das Etikett war zwar nicht mehr lesbar, aber egal was es war, es war noch haltbar. Cannon erwärmte die Dose über dem Feuer und zog einen Plastiklöffel aus dem Rucksack. „Hier, iss du zuerst." sagte er und drückte mir beides in die Hand. Dankbar nahm ich es entgegen und begann die Suppe gierig auszulöffeln. Ich stöhnte leise und schloss genüsslich die Augen. So etwas Gutes hatte ich lange nicht mehr zu mir genommen. Cannon schmunzelte, während er mich beim Essen beobachtete. „Lass mir bloß noch was übrig." Kopfschüttelnd aß ich weiter. „Kannst du vergessen." Er lachte amüsiert. Als die Dose halb leer war, gab ich sie ihm. Er nickte dankend und aß den Rest noch auf. „Wow, ich weiß nicht wann mich etwas zu Essen das letzte Mal so glücklich gemacht hat." Nun musste ich auch lachen. „Wenn du selbst für die Nahrungsbeschaffung verantwortlich bist, macht dich jedes Essen glücklich, glaub mir." Er schüttelte etwas verständnislos den Kopf. „So ging es dir die letzten Jahre immer, was?" Ich nickte. „Ist aber halb so wild, wenn man sich einmal dran gewöhnt hat."
Das Lagerfeuer ging langsam aus und die Dunkelheit zog durch das Tal und die Wälder. „Wir sollten besser schlafen gehen." sagte Cannon nach einer Weile und ich stimmte ihm zu. Zum Glück hatten wir mittlerweile eine Decke, in die wir uns einhüllen konnten. Wir gingen zurück in die Hölle und ich legte mir einen der Rucksäcke als Kissen zurecht. Cannon warf mir die Decke herüber und legte sich etwas entfernt von mir hin. Ich dachte einen Moment nach, bevor ich zu ihm schaute und ihm mit einem Nicken deutete, dass er sich zu mir legen sollte. „Die Decke ist groß genug für uns beide." meinte ich und Cannon lächelte knapp. Er kam zu mir und legte sich mit unter die Decke. Es war ein merkwürdiges Gefühl nach so langer Zeit einem Menschen wieder so nah zu sein. „Alles in Ordnung?" fragte er, während ich gedankenverloren an die Höhlendecke starrte. „Ja. Es fühlt sich nur komisch an." Er schwieg einen Moment lang und drehte sich dann zu mir. „Ich finde es fühlt sich gut an." Überrascht sah ich ihn an. „Wirklich? Inwiefern?" Ich spürte plötzlich wie sein Finger über den Stoff an meinem Oberarm fuhr. „Deine Nähe. Das letzte Mal, dass ich zusammen mit einem Mädchen unter einer Decke lag ist schon einige Jahre her." Ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte, stattdessen starrte ich ihn einfach nur an. „Du glaubst mir nicht." meinte er nach einem Moment der Stille und ich schmunzelte. „Naja, vor ein paar Tagen wolltest du mich noch umbringen, schon vergessen? Und auf einmal findest du es fühlt sich gut an neben mir zu liegen?" Er lächelte amüsiert. „Du bist ganz schön misstrauisch. Hätte ich dich umbringen wollen, würden wir beide jetzt nicht hier liegen, Kleines." Meine Augen weiteten sich und ich schlug ihn sanft gegen die Schulter. „Ich wusste es. Du hattest nie vor mich zu töten." Er grinste nur. „Was denkst du denn? Ich begegne seit Jahren wieder einem halbwegs passabel aussehenden Mädchen und töte sie direkt?" Lachend schüttelte ich den Kopf. „Halbwegs passabel also?" „Ganz genau." Er hatte Recht, mit dem was er sagte. Auf irgendeine merkwürdige Art und Weise fühlte es sich tatsächlich gut an.

Am nächsten Tag wurden wir beide von weit entfernten Stimmen geweckt, die aus dem Dickicht des Waldes drangen. Verschlafen raffte ich mich auf, während Cannon sofort hellwach aufstand und nach seinem Maschinengewehr griff. „Bleib hier, ich gehe nachsehen, wer da ist." Ich nickte und rieb mir noch einmal die Augen. „Sei vorsichtig." rief ich ihm nach, doch er  verschwand schon aus dem Höhleneingang und stapfte hinein ins Unterholz. Währenddessen entschied ich mich dazu schonmal das Frühstück vorzubereiten. Da ich keine der Konserven verschwenden wollte, sammelte ich Beeren von einem Busch direkt vor der Höhle. Es war zwar nicht viel, aber immerhin eine kleine morgendliche Stärkung. Nach kurzer Zeit, stapfte jemand aus dem Busch in meine Richtung. „Cannon, ich hab Frühstück gemacht." sagte ich, doch es war nicht er, der antwortete. „Tut mir Leid, dass ich euch in eurem kleinen Paradies störe, doch ich glaube dein Frühstück musst du allein genießen." Verwirrt drehte ich mich um und vor mir stand Isaac, gemeinsam mit Cannon und noch einem fremden Highwayman. Ich hob eine Augenbraue und schaute zwischen den Männern hin und her. „Ihr könnt schonmal gehen, ich hole noch kurz ein paar Sachen." meinte Cannon dann, woraufhin Isaac und der andere verschwanden. Dann kam er auf mich zu und blickte mich an. „Tut mir Leid, Riv, ich gehe mit ihnen. Wir können dich nicht mitnehmen, mit deiner Verletzung bist du zu langsam." Ich wusste einen Moment lang nicht was ich sagen sollte. „Du weißt ja, sie sind meine Familie und..." Ich unterbrach ihn. „Du brauchst dich nicht entschuldigen, ich pack das schon alleine." Das war gelogen. Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich mich um mich selbst kümmern sollte, wenn ich nicht einmal richtig laufen konnte. „Immerhin hast du deine Freiheit jetzt wieder." versuchte er mich aufzumuntern. Er drückte mir unerwartet einen sanften Kuss auf die Stirn und im selben Atemzug noch sein Messer in meine Hand. „Pass auf dich auf." Er wollte gerade gehen, da hielt ich ihn am Handgelenk fest. „Du auch." Wir sahen uns noch einen kurzen Moment in die Augen, bevor er sich endgültig umdrehte und an der selben Stelle im Wald verschwand, wie die beiden Highwaymen von vorhin. Es war, als hätten sich seine stahlgrauen Augen während dieser paar Sekunden zum Abschied in mein Gehirn gebrannt. Diesen Blick würde ich so schnell nicht vergessen, genauso wenig wie Cannon selbst. Der Highwayman, der mir mein Leben gerettet hat. Nun musste ich wieder allein klarkommen. Ich wusste zwar nicht wie, doch das musste ich mir schnellstmöglich überlegen. Ich warf einen Blick auf das handgefertigte Jagdmesser. Die Initialen C M waren mit etwas Spitzem hineingeritzt worden, vermutlich von Cannon selbst. Seufzend steckte ich mir die Klinge an den ledernen Hosenbund.

ElysiumWhere stories live. Discover now