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Ich öffnete langsam die Augen. Ein stechender Schmerz fuhr durch mein Bein und als ich an mir herunter sah, erkannte ich einen Verband, der meinen Oberschenkel umwickelte."Was zur Hölle...?" murmelte ich und raffte mit verzerrtem Gesicht meinen Oberkörper auf. Ich schaute mich um und stellte verwirrt fest, dass ich mich in einer Höhle befand. „Hallo?" rief ich etwas misstrauisch. „Ist da wer?" Schritte schallten vom Hölleneingang in meine Richtung. Zuerst erkannte ich nur den Schatten einer Person, dann realisierte ich, wer dort vor mir stand. „Cannon?" Natürlich war er es. Dieses provokante Grinsen würde ich überall erkennen. „Hey Kleines, schön dass du wach bist." Ich hob eine Augenbraue. „Wie lange hab ich geschlafen? Und warum sind wir nicht im Camp?" Cannon kam auf mich zu und wickelte meinen durchgebluteten Verband auf. „Zwei Tage, du hast ne Menge Blut verloren. Hätte ich dich nicht gefunden, wärst du jetzt tot." Er ging zu einer Tasche, die etwas weiter entfernt stand und holte einen neuen Verband hervor. „Ach ja, und das Camp wurde überrannt. Ich schätze das waren die Typen die uns angegriffen haben." „Wirklich? Und die anderen Highwaymen?" „Die, die überlebt haben sind geflohen. Ich wollte zurück ins Camp, weil ich Schüsse gehört habe, doch als ich angekommen bin haben die Mistkerle schon alles belagert und die meisten unserer Leute umgebracht." Er holte noch eine Flasche hochprozentigen Alkohol aus der Tasche. „Beiß die Zähne zusammen." Ohne, dass ich antworten konnte, kippte er mir auch schon die Flüssigkeit über die offene Wunde. Ich verzog schmerzerfüllt das Gesicht und krallte mich fluchend in den sandigen Höhlenboden. „Verdammte Scheiße..." Als er fertig war, hob er mein Bein etwas an und wickelte den frischen Verband darum. „Wieso tust du das?" fragte ich, während ich versuchte das Brennen der Wunde zu ignorieren. Er sah mich etwas schmunzelnd an. „Du bist ne Überlebenskünstlerin und ich will überleben. Mit dir hab ich bessere Chancen." Ich verdrehte die Augen. „Natürlich, und ich dachte schon, weil du vielleicht doch ein guter Mensch bist." Nun lachte er. „Ist ein schöner Gedanke, aber da muss ich dich leider enttäuschen." Seufzend legte ich meinen Oberkörper wieder zurück, dann dachte ich einen Moment lang nach. „Ich glaube, du bist in Wahrheit gar nicht so, wie du es von dir selbst behauptest." Nun hob Cannon kritisch eine Augenbraue. „Ach nein? Ich bin nur auf meinen Vorteil bedacht, töte Menschen ohne mit der Wimper zu zucken,..." Ich unterbrach ihn. „Mich hast du nicht getötet. Du hattest die Möglichkeit, aber hast es nicht getan. Und du hast mich in deinem Zelt schlafen lassen, als es geregnet hat." „Das war wegen Isaac. Er wollte, dass..." Ich schmunzelte. „...ich nicht erfriere. Schon klar." Ich wusste, dass er nicht ehrlich war. Er versuchte offensichtlich eine Art Fassade aufrechtzuerhalten. Die Fassade eines starken, furchtlosen Mannes, der keinerlei Emotionen in sich trug und alles Negative in seinem Leben mit unangebrachtem Humor und Gelassenheit überspielte.

Langsam wurde ich wieder müde. Ich drehte mich so weit es ging auf die Seite und legte meinen Kopf auf meinem Arm ab. Während ein erneutes Ziehen durch mein Bein fuhr, fiel mir plötzlich der Traum wieder ein. Der Traum, der mich wiederholte Male nachts panisch aufschrecken ließ. Der Traum, der mich am eigenen Leib den Tod durchleben ließ. Welch Ironie. Ich hatte dieselbe Situation in der Realität erlebt, vielleicht ein wenig abgewandelt, doch es hatte die selben Gefühle in mir ausgelöst. Wie konnte das sein? Konnte ich Dinge vorhersehen? Vermutlich nicht. Trotzdem war das alles äußerst merkwürdig. „Du, Cannon?" fragte ich nach einer Weile. Er nahm einen Schluck aus der Flasche des hochprozentigen Alkohols und sah zu mir. „Glaubst du daran, dass es Menschen gibt, die hellsehen können?" Er hob etwas verwirrt eine Augenbraue. „Wie kommst du denn bitte darauf?" Ich überlegte einen kurzen Moment. „Vergiss es, ist nicht so wichtig." Cannon schüttelte den Kopf und stellte die Flasche neben sich. „Nein Kleines, das will ich jetzt wissen." Vermutlich würde er mich sowieso nicht ernst nehmen, doch ich erzählte es ihm trotzdem. Immerhin hatten wir dann ein Gesprächsthema. Ich erzählte ihm von den Todesträumen, wie beängstigend real diese gewesen sind und davon, wie ich im Wald angeschossen wurde und dass es sich genauso angefühlt hatte. Während er mir zuhörte, nahm er noch einen Schluck aus der Flasche. „Das hört sich alles sehr interessant an, aber du bist nicht tot. Dein Traum hat sich nicht bewahrheitet, also hast du auch nichts vorhergesehen. Es war bestimmt nur Zufall." Ich drehte mich nun zu ihm und stellte fest, dass er Recht hatte. „Aber wieso fühlt es sich so an, als würde beides zusammenhängen?" Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war es auch meine Schuld und ich hab's versaut. Hätte ich dich nicht gefunden und deine Wunde versorgt, dann wärst du vermutlich tot und es hätte genauso geendet, wie in deinem Traum." „Denkst du das wirklich?" Er nickte und ich blickte mit einem leichten Schmunzeln an die Höhlendecke. „Gut zu wissen, dass du mich nicht für verrückt hältst." Cannon schaute zu mir und reichte mir dann die Flasche mit dem Alkohol. „Wieso sollte ich?" Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand, raffte mich noch einmal hoch und trank dann einen kräftigen Schluck. „Keine Ahnung, aber danke, dass du es nicht tust." Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über seine Lippen. „Kein Problem. Ich bin froh, dass ich überhaupt jemandem zum Reden hab und nicht komplett alleine in dieser Höhle sitze." Natürlich, er war es ja gewohnt ständig Gesellschaft zu haben, ganz im Gegensatz zu mir. Ich nahm noch einen Schluck. „Es wird langsam kalt, haben wir eine Decke hier?" Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein, du musst mehr trinken. Das wärmt von innen." Ich hatte ewig keinen Alkohol mehr getrunken, doch er hatte Recht. Je mehr ich trank, desto weniger störte mich die Kälte. Es brannte leicht in meiner Kehle, doch es war ein angenehmes Brennen. Außerdem wurde auch der Schmerz in meinem Bein etwas betäubt. Ich hielt Cannon die Flasche wieder hin uns so ging es eine ganze Weile, bis sie letztendlich leer war.
Er richtete seinen Blick irgendwann auf den Boden und es schien, als würde ihn etwas bedrücken. „Was ist los?" fragte ich, doch er antwortete nicht. „Komm schon, ich hab dir vorhin auch von meinen Träumen erzählt. Jetzt bist du dran." Er begann mit dem Finger sinnlose Muster auf den sandigen Höhlenboden zu zeichnen. „In Ordnung." meinte er. „Mir fehlt das Camp." Auch, wenn er mein Feind war, empfand ich plötzlich Mitleid mit ihm. Er zeigte das erste mal Gefühle. „Du meinst deine Freunde?" Er nickte. „Familie trifft es eher. Ich bin mit diesen Leuten groß geworden. Sie haben sich um mich gekümmert, als ich mich ihnen mit 14 Jahren angeschlossen habe. Isaac hat mich trainiert und mir alles beigebracht, was ich heute weiß. Es ist komisch nicht zu wissen, ob ich sie wiedersehe." Ich schaute ihn verständnisvoll an. Ich kannte zwar das Gefühl nicht, das er beschrieb, die tiefe Verbundenheit zu anderen Menschen, doch ich konnte nachvollziehen, dass es ihn bedrückte. „Ich wünschte, ich wüsste, wie es sich anfühlt." meinte ich dann und seufzte. „Wie sich was anfühlt?" fragte er und unterbrach seine Zeichnungen. „Wie es ist, jemanden zu haben, der einem wichtig ist und dem ich wichtig bin." Er blickte nun wieder auf den Boden. „Sei froh, dass du es nicht weißt. So bist du weniger verletzlich." Ich nickte. „Stimmt. Trotzdem ist es einsam." Dann legte ich ihm die Hand auf die Schulter. „Du wirst sie wiedersehen. Vermutlich haben sie schon die halben Westlande nach dir abgesucht und es dauert nicht mehr lang, bis sie auf diese Höhle treffen." Er nickte knapp. „Vermutlich hast du Recht." Dann warf er einen Blick auf mein Bein. „Hast du Schmerzen?" Kopfschüttelnd strich ich mit der Hand über den Verband. „Nein, dank dem Alkohol nicht mehr." Er schmunzelte. „Gut. Schlaf am besten ein wenig, morgen musst du dich langsam wieder ans Laufen gewöhnen." Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich rutschte nach unten und legte den Kopf auf meinen Arm. Der Alkohol hatte mir nicht nur die Schmerzen genommen, er hatte mich auch müde gemacht. Es dauerte nicht lange, bis mir meine Augenlieder zufielen und ich in den Schlaf glitt.

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