Abstieg (4)

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Baldor hatte aufgehört, die Etagen zu zählen, aber so langsam kam ihm der Verdacht, dass sie trotz Sarahs Anwesenheit nicht als Gefahr eingestuft wurde. Keine Siks, die sie an den Türen attackierten, kein Aufzug, dem sie panisch kreischend ausweichen mussten. Beinahe langweilig. Vielleicht hätte sich Baldor doch für die Tour durch die Kanalisation entscheiden sollen. Der andere Gedanke war, dass sie bereits als tot abgeschrieben wurden. Sie begaben sich hinab in die Unterwelt. In die Höhle eines menschenfressenden Monsters, aus dessen Gegenwart sonst jeder floh.

Die Gruppe murrte nur noch selten, wenn Baldor einmal den Halt verlor und es ruckelte und inzwischen hatte sich auch der Letzte von ihnen mit dem schleimigen Zustand seiner Kleidung abgefunden.

"Jetzt weiß ich, warum hier kein Aufzug mehr fährt", rief Sergej nach oben. Ihn hatte Baldor als Späher ganz nach unten gehängt, zusammen mit Ngi, dessen Scheinwerfer den Schacht in flackerndes Licht hüllte. "Die Wände sind hier im Arsch. Überall Rissen und da unten fehlt sogar ein ganzer Brocken."

"Meinst du, der Schacht hält uns noch aus?" Klara klang verunsichert. Ja, das war kein Baum. Keine Äste, an denen sie sich elegant entlangschwingen konnte, wenn sie fiel.

"Das können wir nur hoff–"

Etwas brach aus der Wand, Baldor rutschte ab und Sergejs Worte wurden abgeschnitten. Ein Betonregen rieselte durch das Licht hinab in die Dunkelheit und Baldor griff hastig mit zwei seiner Arme nach neuem Halt.

Sergej räusperte sich. Als er seine Worte wiedergefunden hatte, fuhr er fort: "Also, wir könnten immer noch durch die anderen Schächte."

"Und die sind in einem besseren Zustand?" Mal abgesehen davon, dass Baldor erst einmal herausfinden musst, wie er seine Tentakel loswurde, um nicht stecken zu bleiben.

"Ich stürze lieber hier ab und verlasse mich darauf, dass Baldor uns festhält." Sarah hatte die meiste Zeit der Strecke geschwiegen. "Wenn eines der Kanalisationsrohre einstürzt, sind wir mit Sicherheit tot."

"Ihr müsst euch nicht mehr entscheiden." Ngis Stimme hallte durch den Schacht und hörte sich noch künstlicher an, als sonst. "Ich kann den Boden sehen!"

Sergej sah nach unten, lehnte seinen Oberkörper vor und Baldor musste seinen Tentakel noch enger um ihm schließen, damit er ihm nicht herausrutschte. Sergej stöhnte. "Scheiße. Das ist ein ganzes Stück, bis zum Boden. Baldor. Wie weit kannst du deine Tentakel ausfahren?"

"Weiß nicht. Unendlich weit? Immerhin wachsen die Dinger ja aus dem Nichts."

'Oh nein', hallte es in seinem Kopf. 'Sie kommen nicht einfach aus dem Nichts. Die Materie, die hier entsteht, verschwindet in einem der anderen Universen.'

"Okay? Ist das schlimm? Ich meine, was ist das für Materie?"

'Die anderer Lebewesen, die sich dort an derselben Stelle befinden, an der du dich gerade hier befindest. Zunächst aus den naheliegenden Universen. Zum Beispiel aus dem, das mit der Wahl entstanden sind, ob ihr dort oben kämpft oder nicht. Aus dem nächsten, in dem sich die Frau entscheidet, ob sie den Mann erschießt, beide oder gar keinen. Ob du sie stehen lässt und all den weiteren, unbedeutenderen Entscheidungen ...'

"Jede unserer Entscheidungen erzeugt ein neues Universum? Das eine Kopie unseres eigenen ist, mit leichten Veränderungen?" Baldor sponn den Gedanken weiter und ihm lief ein kalter Schauer den schleimigen Rücken hinunter. "Du meinst, ich habe Materie aus mir oder meinen Freunden gerissen, in einem Universum um die Ecke?"

'Ja.'

"Ugh ..." Baldors stellte sich vor, wie jemandem, der ihm ähnlich sah, dort oben vor dem Fahrstuhl ein Stück Fleisch aus der Brust gerissen wurde. Ihm, Sergej oder ... Klara. Sein Blut wanderte bei dem Gedanken aus seinen Tentakeln in den Rumpf. Eine natürliche Schutzreaktion bei brenzligen Situationen, wie er im Unterricht gelernt hatte. Eine natürliche Reaktion, bei dem Schrecken, den diese Bilder in ihm auslösten.

Tobende TentakelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt