Seele (4)

37 15 2
                                    

Als der Wald abrupt endete, um einer grauen Ebene Platz zu machen, wusste Baldor, dass sie sich der Stadt der Menschen näherten. Im Gegensatz zu den Straßen in der Ruine hatte hier jemand penibel darauf geachtet, dass sich kein einziges Loch darin befand. Den Horizont bildete eine weiße Linie und jenseits davon ragte ein weißer Speer gen Himmel. Im Angesicht der Mauern und des Turms fühlte er sich plötzlich winzig und unbedeutend.

"Das ist eure Stadt?"

Sergej trat neben ihn. "Was dort hinten unheilvoll in den Himmel ragt, ist die Zitadelle. Dort hat alles begonnen."

"Und der Ort, an dem die Menschheit beinahe ihr Ende gefunden hätte", raunte Sarah und imitierte Sergejs Ernsthaftigkeit.

Sergej brummte. "Okay ... danke, dass du mir meinen dramatischen Moment versaut hast."

"Ach Süßer, lass den Kopf nicht hängen. Willst du noch einmal von vorne anfangen?"

"Ha ha. Nein, ich fasse mich kurz. Ja, das ist die Zitadellenstadt. In der Mitte befindet sich die namensgebende Zitadelle. Sie bildet das Zentrum von fast allem. Produktion, Informationen, Nahrung. Die Ringe, die sie umgeben, sind hauptsächlich Wohnquartiere ehemaliger Unterweltler. Dazwischen einzelne Freizeitanlagen, die lange nicht für alle ausreichen. Der Rat hat es hier perfekt hinbekommen, die Unterweltler in sich selbst zu spalten, indem sie dafür ein Privilegiensystem ..."

"Stopp!", unterbrach in Sarah. "Hey, wolltest du dich nicht kurzfassen?"

"Tut mir leid, wenn ich dein Klischee des schweigsamen Muskelmanns nicht erfülle." Genervt fasste er sich nun wirklich kurz. "Ganz außen: illegale Vergnügungsviertel. Fast ganz außen: Baracken und Verteidigungsstellungen des Sicherheitskorps. Fertig."

Eine Bewegung erregte Baldors Aufmerksamkeit. Ein Stück entfernt beschnüffelten Klaras Ratten scheu den grauen Boden.

"Wozu dient diese gewaltige graue Fläche um die Stadt?", wollte er wissen.

"Verschiedenem", antwortete Sarah, ohne wirklich etwas dabei zu erklären.

Gut, dass Sergej hier war, so erfuhr er wenigstens ein paar Kleinigkeiten über diesen Ort. "Es ist zum einen die Grundfläche, auf der neue Stadtringe hochgezogen werden. Es vereinfacht die Bewegung der Abbaumaschinen, die die Wälder fällen und neue Ressourcen hereinbringen. Und es ist eine Abwehrmaßnahme."

"Wie das?"

"Die Tiere hassen den Boden." Klara verzog ihr Gesicht. "Er ist unnatürlich. Schlimmer als der Teer in den Ruinen. Sie spüren, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt. Genau, wie mit der ganzen Stadt."

Sergej zuckte mit den Schultern. "Alles wird hier mit den Baustoffsynths hergestellt. Genau wie ihre Gegenstücke für die Nahrung, können die aus einem beliebigen Material ein ganz anderes erzeugen. Vielleicht erwarten sie einfach etwas anderes als sie sehen."

"Klar. So ein Quatsch." Sarah warf einen flüchtigen Blick zu den Ratten und schnaubte. "Das sind doch nur Tiere. Die denken gar nichts. Eher ..."

Noch bevor sie den Satz beendet hatte, änderte Klara ihre Körperhaltung. Sie senkte den Kopf ein Stück und spannte die Muskeln an. Wie ein wildes Tier, das sich auf einen Kampf vorbereitet. Nur auf zwei statt vier Beinen. Baldor hielt den Atem an und sein Blick sprang zwischen den beiden hin und her.

Der Satz, der unausgesprochen in der Luft hing, wurde von einem Rauschen davongetragen und nur das verhinderte ein Blutbad. Es war wie das plötzliche Aufbrausen des Windes, mit dem ein Objekt über die Baumgrenze schoss, direkt auf Zitadelle und Stadt zu. Ein Gleiter, auf dessen Dach etwas befestigt war, das wie ein zusammengerolltes Segel aussah.

Tobende TentakelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt