𝐀𝐋𝐋𝐄𝐈𝐍

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Die Wolkendecke am Himmel bricht langsam auf und bringt die aufgehende Sonne zum Vorschein, die ihre Strahlen hinab zwischen die dichten Bäume des Waldes wirft.
Jinia und Yuvan sind sind inzwischen weit weg von der großen Pfütze, und somit auch den giftigen Spinnen.
Ob sie sie endgültig los sind, weiß ich nicht, was mir jedoch schlagartig klar wird, ist, dass das Gift Yuvan umbringen wird, wenn es keinen Weg gibt, ihn zu heilen.
Seine Kräfte lassen bereits nach und nach einer Weile lässt er sich an einem breiten Baumstumpf sinken und beobachtet müde den Stich der Spinne, der die Form eines Halbmondes hat, an seinem Arm.
Er ist nur klein, jedoch werden seine Auswirkungen auf Yuvan immer größer.
Jinia ist verzweifelt, doch welche Emotion ich als davor in ihrem Gesicht erkenne, ist Entschlossenheit.
Entschlossenheit, Yuvan zu retten und nicht noch einen Verbündeten zu verlieren.

Immer wieder sieht sie sich den tiefen Einstich in Yuvans Haut an, doch sie hat nichts, mit dem sie ihm irgendwie helfen kann.
„Komm schon..." murmelt sie und durchwühlt ihren Rucksack, obwohl sie weiß, dass dort nichts rettendes mehr drin ist.
Dann blickt sie an den Himmel.
„Bitte. Bitte, wir brauchen Hilfe!" sagt sie mit klarer Stimme und auch mit klarem, nicht mit verzweifeltem Blick.
Sie scheint gelernt zu haben, was die Kapitolbewohner wollen, und vor allem, was sie überzeugt.

Ich stehe auf und blicke zu Finnick.
„Hilf mir. Hilf ihm. Bitte."
Finnick blickt mit seinen sanften, grünen Augen zu dem Publikum, welches die Szene in der Arena gespannt beobachtet.

Dann steht er auch auf und dieses Mal gehen wir gemeinsam zum Publikum, auch, wenn mir dabei garnicht wohl zumute ist.
Ich halte Ausschau nach der Familie, bei der ich die Eltern schließlich überzeugt habe, Jinia etwas in die Arena zu schicken.
Und da entdecke ich sie tatsächlich, an einem Tisch am hinteren Ende des Saals.
Die zwei Kinder scheinen mich bereits entdeckt zu haben, und sich auf darüber zu freuen, dass ich auf sie zukomme.
Jedoch sehe ich dieses Mal auch einen positiven Ausdruck auf dem Gesicht der Eltern, vor allem auf dem bleich wirkenden Gesicht der Mutter, dessen glatte, kohlrabenschwarze Haare sie zu einem strengen Dutt gebunden hat.
Zwar ist es, wovon ich stark ausgehe, aufgrund von Finnick an meiner Seite, der ihr mit einem geheimnisvollen Lächeln in die eisblauen Augen blickt, doch solange sie das davon überzeugt, Yuvan zu helfen, freut mich das.

Als wir etwa nur noch zwei Meter vom Tisch entfernt sind, bleibt Finnick auf einmal stehen und hält mich am Arm.
Dann durchbohrt er die Frau mit seinem Blick und sie wird ganz rot im Gesicht.
Und schließlich kommen die vier von selbst auf uns zu, und nicht wir auf sie.
„Librae, Librae!" höre ich die Stimme von Delilah, eines der beiden Kinder.
Sie und ihr Bruder kommen auf mich zu und beginnen, mich mit hunderten Fragen zu durchlöchern.

Bevor ich darauf antworte, sehe ich, dass Finnick versucht, die Mutter zu überzeugen. Ob davon, dass sie Yuvan helfen sollen oder von sich selbst wird mir aber nicht klar, denn Finnick redet sehr leise auf sie ein, was ihrem Lebensgefährten garnicht zu gefallen scheint.
Doch ich wende mich wieder den Kindern zu.
„Kommen du und Jinia aus Distrikt vier?" fragt Codey schüchtern.
„Dort will ich auch eines Tages hin! Zum Meer! Es ist sicherlich wunderschön dort!" schwärmt Delilah.
Ich schlucke. Ja, das Meer ist wunderschön. Doch das Leben in Distrikt vier ist es nur für wenige.
Und diese beiden Kinder scheinen gar keine Ahnung davon zu haben.
Ich überlege, wie ich reagieren soll. Soll ich sie belügen, und ihnen vorgaukeln, wie schön und unbeschwert das kleben in den Distrikten sei? Oder soll ich ihnen erzählen, wie es dort wirklich ist?
Kaum habe ich mich entschieden, spreche ich es auch schon aus.
„Wisst ihr, so schön ist es dort garnicht. Also, ich stimme dir zu, das Meer und die Küste sind wirklich wunderschön. Aber viele Leute dort, darunter auch meine Familie vor meinen Spielen, hatte nicht viel Geld. Das hieß, wir konnten uns kein gutes Leben leisten."
Die beiden sehen mich mit großen Augen an, als wüssten sie nicht, was das bedeutet.
„Und...und ist das auch in den anderen Distrikten so? Also, dass die Leute dort auch...kein gutes Leben haben?" fragt Delilah.
Ich seufze.
Doch irgendwie gefällt es mir ein wenig, dass diese beiden Kinder mir zuhören.
Ja, sie hören mir und meinen Geschichten von zuhause zu. Sie verstehen, was ich sage und ja, ich denke, sie glauben mir sogar.
„Wisst ihr, ich glaub' niemand von uns, weder ihr beide, noch eure Eltern, noch ich, kann sagen, was eigentlich ein gutes Leben ist, oder? Wie ich finde, braucht man für ein gutes Leben garnicht so viele materielle Dinge, im Gegenteil. Aber ich glaube, die...die Umstände in den Distrikten machen es vielen Bewohnern dort schwer, wirklich sagen zu können, dass sie ein gutes Leben haben. Vor allem, wenn jedes Jahr Kinder in die Hungerspiele gewählt werden, meist unfreiwillig."
Die beiden sehen staunend mein düstere wirkendes Gesicht an.
Offenbar hat ihnen nie jemand die eigentliche Wahrheit über die Distrikte und seine Bewohner erzählt.
Den Kindern hier wird immer nur erzählt, die Distrikte seien dreckig, und die Leute seltsam, aber wenn es um die Spiele gibt, machten sie ihre Kinder Feuer und Flamme für sie.
„Also...also willst du garnicht, dass Jinia in den Spielen ist?" flüstert Delilah.
Bei dieser Frage muss ich beinahe ein Lachen ausstoßen. Doch da bemerke ich, dass es eigentlich ganz und garnicht lustig ist.
„Nein. Nein, das will ich nicht." antworte ich.

Da merke ich, wie still es auf einmal im ganzen Saal geworden ist.
Haben etwa alle mir zugehört?
Ich blicke mich nach Finnick um, doch ich sehe nur die Frau mit den schwarzen Haaren, die gerade ihr Geld einem Spielmacher reicht.
Finnick hat sie also überzeugt!
Ein harter Schlag auf den Arm lässt mich schlagartig nach Luft schnappen.
„Hören Sie sofort auf, meinen Kindern solche dreckigen Geschichten einzuflößen!" brüllt mich auf einmal der Vater der beiden an, während er mich von ihnen wegschubst und seine zwei Kinder zu sich reißt.
Mein Herz rast und ich bringe kein einziges Wort heraus.
„Ich verbiete Ihnen ab sofort, auch nur noch ein Wort mit meiner Tochter und meinem Sohn zu sprechen!" ruft er entzürnt in die gruselige Stille im Saal.
Und da ertönt von draußen ein lautes Donnerkrachen. Und ich bin wieder in einer schrecklichen Erinnerung gefangen.
Schüsse. Zwei Schüsse, lauter als der Donner, lauter als der Regen, lauter als alles um mich herum.
Die glotzenden Augen der Masse, die mich anstarren.
Schüsse. Immer wieder und wieder.
Und ein Schrei.

Ich spüre, wie mich jemand am Arm packt und davonzieht.
Immer noch krachen Schüsse in meinem Kopf, und die Welt vor meinen Augen ist verschwommen.

Ganz langsam öffne ich die Augen.
Das erste was ich höre, ist mein eigenes, panisches Atmen.
Ich spüre, dass ich mir mit beiden Händen die Ohren zugehalten habe.
Und dann fügen sich die verschwommenen Bilder um mich herum wieder zu einem ganzen zusammen.
Ich bin in unserer Etage des Hochhauses.
Ich sitze zusammengekrümmt auf dem samtblauen Sofa.
Da erkenne ich Finnick neben mir, und mit ihm seine grünen Augen, die mich durchbohren.
Dröhnende Kopfschmerzen machen sich bemerkbar, als ich die Stimme erhebe.
„Was ist passiert?" krächze ich.
Finnick seufzt.
„Erzähl ich dir lieber nicht zu detailliert. Ich habe dich aus dem Saal herausgebracht, vor ein paar Minuten."
Ich weiß, dass er mir etwas verschweigt.
Wohl die starrenden und wütenden Blicke der Zuschauer.
Die entsetzten Blicke der Spielmacher, die sich darüber den Kopf zerbrachen, was sie mit dieser hysterischen Siegern anstellen sollen.
Die ängstlichen Blicke von Delilah und Codey, als sie hören, wie sehr ihr Vater mich anbrüllt.
Und Jinia und Yuvan, die ich im Stich gelassen habe.
Oh nein.
Finnick scheint mir anzusehen, was mich bedrückt.
„Schon okay, das Geschenk für Yuvan wurde abgeschickt, bevor dieser dämliche Typ dich angebrüllt hat. Sie haben es bekommen, vor ein paar Minuten." meint er möglichst ruhig.
Eigentlich will ich garnicht wissen, was passiert, doch ich muss.
„Ich geh heute auf keinen Fall zurück in den Saal. Egal, was die sagen. Kannst du die Übertragung der Spiele hier auf dem Fernseher anschalten?" frage ich Finnick und er nickt.

Ich atme immer noch immer flach, und meine Hunde sind eiskalt, als ich Jinia und Yuvan beobachte.
Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken, als ich Yuvans Gesicht sehe.
Schweiß rinnt an seiner Stirn herunter und er ist noch bleicher als vorhin.
Jinia öffnet mit ihren zittrigen Händen das am Boden gelandete Sponsorengeschenk.
Dort drin ist ein kleines Fläschchen mit einer orangefarbenen Flüssigkeit in ihm.
Kritisch begutachtet Jinia es, aber als sie zu Yuvan blickt, versucht sie sofort, es zu öffnen.
„Ich hab echt keine Ahnung, wie viel du davon trinken musst. Zu viel könnte es noch schlimmer machen, und zu wenig..."stammelt sie verzweifelt.
Yuvans Augen sind scho beinahe ganz geschlossen.
„Nein, nein komm schon..."wimmert Jinia und versucht, den Deckel aufzudrehen, der offenbar extrem fest an der Flasche befestigt ist.
Mit aller Kraft und immer verzweifelter versucht Jinia, die Medizin aufzubekommen, doch der Deckel bewegt sich nicht.
Und ich glaube, das Kapitol hat das mit Absicht gemacht. Mit bitterer, böser Absicht.
Zitternd lässt Jinia das Fläschchen sinken und beißt sich nervös auf die Lippe.
Dann ergreift sie ihren Dolch und versucht, damit den Deckel von der Flasche zu lösen.
Doch da nimmt jemand ihre Hand und stellt das Fläschchen ab.
Yuvan.
„Hör auf. Es hat keinen Zweck. Sie wollen es so und sie bekommen es." krächzt er mit einer ganz leisen Stimme.
Jinia bringt kein Wort mehr heraus. Sie weiß, dass er gerade die bittere Wahrheit gesprochen hat.

Da zieht Yuvan plötzlich etwas aus dem Ausschnitt seines Shirts legt es Jinia in ihre Hand.
Es ist ein langes, dünnes, schwarzes Band, an das unten ein kleiner, rötlicher Stein eingefädelt ist.
„Das ist von meiner Mutter. Einst hat es Yilmaz gehört. Sie...sie hat es mir als ein Versprechen gegeben. Und ich habe ihr das Versprechen gegeben, dass ich es ihr wieder zurückbringe. Bitte, tu das für mich, und...und vor allem für sie. Ich konnte das einzige, was ich versucht habe, das einzige, wofür ich gekämpft habe, nicht erfüllen. Aber du...du hast noch Hoffnung.
Komm nach Hause." flüstert Yuvan und eine Träne läuft an seiner Wange hinab.

Dann schließt er ganz langsam seine Augen und ein letztes Mal hebt und senkt sich seine Brust, bevor sie sich schließlich nie wieder regt.
Ein harter, dumpfer Knall der Kanone lässt mich zusammenzucken, und Jinia mit ihrem Kopf zu Boden sinken.

Tribute von Panem | Flammendes MeerWhere stories live. Discover now