𝐕𝐈𝐄𝐑

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Zwei Schüsse, die selbst das laute Krachen des Gewitters übertönen.
Ein Friedenswächter, der das kleine Mädchen zu Boden schubst und sie anschließend tötet.
Die Klinge, den Körper des blonden Mädchens immer wieder und wieder durchbohrt.
Die Jaguar- Mutation des Kapitols, die dem schwarzhaarigen Mädchen tief ins Fleisch beißt.
Das Schwert, welches den Körper des Jungens mit den eisblauen Augen durchbohrt.
Und nun Jinia, der eine Klinge an die Kehle gehalten wird.

Aus Schock packe ich Finnicks Arm und drücke ihn so fest, dass er wahrscheinlich schmerzverzerrt das Gesicht verzieht.
Doch ich blicke nur auf den Bildschirm.
Und wie Nate Jinia festhält und sie die Augen panisch geweitet hat.
Das Schwert, das Luke ihr gegeben hat, hat Nate mit einem gekonnten Schlag aus Jinia Hand und anschließend zu Boden fallen lassen.
Das heißt, sie kann sich nicht mehr wehren.
Ich halte die Luft an, und bereite mich darauf vor, das Nate Jinia die Kehle aufschlitzt.

Doch dann hört man Jumara aufschreien.
„Stop! Lass sie sofort los!" schreit sie Nate an und zieht bedrohlich ihren Speer.
„Eine Bewegung und du bist tot." sagt Luke eiskalt und richtet den spitzen, schwarzen Pfeil, den er in Windeseile in den Bogen eingespannt hat, genau auf Nates Herz.
Der sieht sie nur mit kühnem Blick an, doch regt sich kein Stück.
Mein Herz schlägt so schnell wie noch nie.
Was wird geschehen?
Ich glaube, Nate kann die drei überwältigen. Jinia kann er mit nur einem Handgriff umbringen,
Lukes Pfeil und Jumaras Speer ausweichen und dann gegen sie kämpfen.
Und er ist schlau.
Er hätte den Angriff nicht gewagt, wenn er nicht wüsste, was ihm bevorsteht.
Eine Weile blickt er Jumara und Luke und dann auch die Klinge in seiner Hand an, die Jinia immer mehr die Luft zu nehmen scheint.
Doch dann, als es gerade so aussieht, als würde er Jinias Leben mit nur einem Schwung seines Messers beenden, lässt er von ihr ab.
Die schnappt keuchend nach Luft und weicht sofort von ihm.
Ich sehe die schreckliche Todesangst in ihren Augen.
Taumelnd stellt sie sich zwischen Jumara und Luke, und zieht blitzschnell das Schwert, welches Nate ihr aus der Hand geschlagen hat.
Bevor irgendjemand auch noch irgendetwas tun kann, spricht Jinia klar und deutlich ein Wort und blickt Nate dabei direkt in die grauen Augen.
„Vier?"
Luke und Jumara blicken sie überrascht an, genau wie ich.
Niemand hätte wohl gedacht, dass ausgerechnet Jinia, welche Nate gerade beinahe getötet hat, nun vorschlägt, ihn in ihr Bündnis aufzunehmen.
„Du kannst es nicht alleine mit den Karrieros aufnehmen." meint schließlich auch Jumara und konfrontiert Nate mit einem stechenden Blick.
Dieser mustert die drei eine Weile mit einem Blick, als würde er gleich alle aufeinmal mit nur einem Hieb seiner Klinge umbringen.
Doch dann lässt er ganz langsam sein Messer an der Seite seines Gürtels verschwinden.

„Vier." ist nun das erste Wort, welches man aus seinem Munde und von seiner tiefen, rauen Stimme vernimmt.
Jumara nickt.
„Gut. Wag es ja nicht, einen von uns..." Dann hält sie inne und blickt schon fast entschuldigend zu Nate.
„Ich meine, wag es ja nicht, gleich heute Nacht wieder zu verschwinden. Wir können dich gut gebrauchen."
Dann dreht sie sich ohne ein weiteres Wort um und stapft weiter in Richtung See.
Jinia scheint sich langsam von dem Schock erholt zu haben, denn sie folgt Jumara sofort.
Lukes Schwert jedoch behält sie in der Hand.
Luke wirft noch einmal einen misstrauischen Blick zu Nate, und folgt den anderen erst, als dieser sich in Bewegung gesetzt hat.
Fortan geht Luke die ganze Zeit hinter Nate.
Und den tödlichen Pfeil, den er eben noch auf ihn gerichtet hat, behält er in der Hand.

Ich bemerke, wie Wellen der Anspannung von mir abfallen.
Ich blicke auf meine zittrige Hand, die sich noch immer an Finnicks Arm krallt.
Entschuldigend blicke ich ihn an.
„Tut...tut mir leid, falls ich dir wehgetan hab." bringe ich stammelnd hervor.
„Ist schon gut. Annie macht das auch. Sie...sie ist dir in manchen Hinsichten ziemlich ähnlich. Und nicht nur in den schlechten. Nein, ich glaube, du und...und Annie, ihr stellt euch selbst und eure eigenen Bedürfnisse immer ganz hinten an." meint er.
Ich bringe ein kleines Lächeln zustande.
Auch, wenn ich mich über die Jahre durch die vielen schrecklichen Vorfälle stark verändert habe, glaube ich, dass diese Eigenschaft eine der wenigen guten ist, die ich noch immer in mir trage.
„Nale, er, er ist auch dir in manchen Hinsichten ziemlich ähnlich. Ihr beide würdet alles für die tun, die ihr liebt.
Weißt du, wenn...wenn all das hier vorbei ist...und ich meine, wenn...wenn sie nach Hause kommt, wie wäre es, wenn ihr uns mal besuchen kommt? Ich...ich weiß, dass klingt jetzt irgendwie komisch, bei allem, was gerade passiert, aber ich glaube, Ablenkung tut vor allem Annie gut. Und dir...ja, und Nale und mir auch. Ich glaube, du und Annie würdet bestimmt auch gerne mal Jinias Geschwister kennenlernen. Ich glaube, du würdest dich gut mit Arvin verstehen. Er ist genau so begeistert von diesen Zuckerteilen wie du."
Bei den letzten Worten muss ich lachen, denn genau in den Moment wirft sich Finnick wieder einen der schneeweißen Zuckerwürfel in den Mund.
Er lächelt schief.
„Das klingt garnicht komisch. Ich glaube, du hast recht. Würde uns allen mal guttun." grinst er.
Und damit steckt er mich glatt an.
Es ist kein großes, schönes Lächeln, das sich um meine Lippen formt.
Im Gegenteil, es wirkt beinahe schon so schräg wie Finnicks.
Doch es ist ein echtes Lächeln, ein echtes, wie ich es in den letzten Tagen auf so wenigen Gesichtern, darunter auch in meinem eigenen, gesehen habe.

„Seid ihr da vorne jetzt mal fertig?" höre ich eine schnippische Stimme hinter uns.
Wir drehen uns zu Johanna um.
„Was ist denn?" frage ich seufzend.
„Ich weiß nicht, ob das gut war, den Typen aus sechs dazuzuholen. Ich trau dem Kerl nicht. Und stärker als die drei ist er allemal."
erwidert sie.
Maisie schaltet sich ein.
„Kann man aber auch als Vorteil sehen. Jetzt sind sie genau so viele wie die Karrieros. Und ich glaube, es ist eh nur noch 'ne Frage der Zeit, bis sich euer Junge von denen abschottet."
Sie weist mit einer Kopfbewegung zu Finnick und mir.
„Stimmt. Und dann sind sie nur noch drei. Und wer weiß, vielleicht kommt Yuvan ja auch zu eurem Bündnis." schaltet sich Blight ein.
Daran hatte ich auch schon gedacht. Seit dem seltsamen „Streit" der Karrieros vor ein paar Stunden haben sie kaum noch ein paar Worte miteinander gewechselt.
„Jedenfalls scheinen Jumara, Luke und Jinia Nate noch nicht zu vertrauen."
Dean aus fünf kommt gerade von ein paar Kapitolbewohnern zurück, die er überzeugt hat, Luke etwas in die Arena zu schicken.
„Aus gutem Grund.", schmunzelt Johanna, „Haben ihn unterschätzt und jetzt bemerken sie, wie stark er ist."

Genau wie sie selbst. Bei ihren Spielen damals tarnte sich Johanna als ein schwaches, kleines Mädchen, doch in der Arena wendete sich das Blatt und sie zeigte, dass sie jemanden ohne mit der Wimper zu zucken töten konnte, was schließlich dazu führte, dass sie ihre Spiele gewann. Sie wurde unterschätzt.
Und ich glaube, dass auch viele das mit Jinia tun.
Sie ist zwar nicht besonders stark, doch in der Arena kommt es auch auf andere Dinge an, auch, wenn es nicht viele so sehen mögen.
Ich denke, sie ist viel schlauer und gewiefter als beinahe alle von ihr denken.

Nach ein paar Aufnahmen von den Einzelgängern aus drei, sieben, zehn und elf und den Karrieros, die durch die helle, heiße Wüste laufen, zeigen die Kameras wieder Jinia, Luke, Jumara und Nate.
Die vier sind inzwischen am äußersten Rand des Waldes angekommen und ihre Füße laufen nun wieder über den gelblichen Sand, der sie tief darin einsinken lässt.
„Da vorne ist der See!" ruft Jinia und weist mit ihrem Finger auf ein bläuliches Glitzern in nicht allzu weiter Ferne.
Jumara, Luke und sie beschleunigen ihre Schritte, nur Nate ist damit beschäftigt, Jinia mit düsterem Blick anzusehen.
Ich glaube, er fragt sich, was sie in diesem Bündnis soll.
Jumara, Luke und er bestitzen eine Waffe, mit der sie umgehen können, ganz im Gegensatz zu Jinia.
Er weiß wohl nicht, dass sie nur einen Dreizack bräuchte, um sich zu verteidigen. Doch den hat sie nicht.
Stattdessen hat sie nur sich selbst. Sich und ihren Verstand.
Und ich glaube, dass sie den noch gut einsetzen können wird.

Ein paar Minuten später sind die vier an dem in der Hitze glitzernden See angekommen und laufen völlig ahnungslos auf das Wasser zu.
Ich verknote nervös meine Hände ineinander, und die Worte, die Caesar Flickermann in den nächsten Sekunden spricht, lassen mich erstarren.
„Nun, liebstes Publikum, unser Bündnis hat sich vergrößert! Doch wie lange das wohl so bleiben wird? Wenn unsere vier Tribute hier weiterhin keine Bedenken beim Anblick auf den See vor ihnen äußern, dann versichere ich Ihnen, dass wir sie vielleicht sogar alle vier verlieren werden! Denn dieser See, mein liebstes Publikum, beinhaltet ein tödliches Gift!"

Tribute von Panem | Flammendes MeerWhere stories live. Discover now