𝐊𝐀𝐌𝐏𝐅

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Ich liege im Bett und starre an die dunkle Decke des Zimmers.
An schlafen ist nicht zu denken.
Meine zwölfjährige Tochter ist in den Hungerspielen, und kann jeden Moment getötet werden.
Ich werde sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Ich kann es einfach nicht. Hier herumliegen und nichts tun.
Sollte ich nicht wenigstens wissen, was passiert?
Das wäre doch besser, und ich würde mich nicht hier abquälen. Also schnappe ich mir die Fernbedienung, die auf dem Nachtisch bereitliegt, und die ich bisher noch kein einziges Mal benutzt habe.

Ich schalte den kleinen Fernseher an, der direkt an der gegenüberliegenden Wand des Bettes hängt.
Eingeblendet ist die dunkle Arena. Hier sieht man die Geschehnisse rund um die Uhr, und sie filmen meistens auf etwas, was sich bewegt, oder auf die Karrieros, wenn sie nachts nach anderen Tribute suchen.

Da ist sie! Jinia! Meine Jinia. Sie sitzt auf einem hohen Baumstamm und sieht in den dunkelblauen Sternenhimmel. Um sie die Ruinen zweier zerstörter Häuser. Sie hat nichts, um sich warm zu halten, nur sich selbst. Sie friert, dass sieht man ihr an. Nach einiger Zeit zieht sie den Ärmel der schwarzen Jacke hoch und blickt auf etwas an ihren Handgelenk.
Es ist ihre Erinnerung an Zuhause, das kleine Armband mit den Sternen dran, das ich damals von meiner jüngeren Schwester bekommen habe und den ich am Tag der Ernte ihr gegeben habe.
Sie streicht über die goldenen Sterne, und blickt dann direkt in die Kamera.
Und ich erkenne, wie sich, wenn auch nur ein klitzekleines, Lächeln um ihre Lippen formt.
Ich lächle zurück und es ist fast so, als würde sie gerade zu mir sehen.

Ein neuer Tag in der Arena hat begonnen und ich sitze bereits, wie all die anderen Mentoren, wieder im Saal, wo die Spiele ausgestrahlt werden.
Noch regt sich wenig in der Arena, und deshalb herrscht normales Geplauder zwischen den Mentoren.
Ich bin zwar erschöpft und müde, da ich in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan habe, jedoch kann ich den Gesprächen der anderen noch folgen.
„Ja...ja, das stimmt. Ich denke, er hat ernsthafte Chancen auf den Sieg.." höre ich Dean Whittecar aus Distrikt fünf mit Blight sprechen.
Ich drehe mich zu ihnen um.
„Von wem redet ihr?" frage ich.
„Vom Jungen aus sechs." antwortet Blight.
Ich sehe sie weiterhin fragend an, woraufhin Dean meint: „Ich glaube, er wird ziemlich stark unterschätzt. Distrikt sechs hat seit Jahren nicht mehr gewonnen. Aber dieser Nate ist extrem stark. Und vor allem extrem hinterhältig. Letzte Nacht zum Beispiel, hat er das Mädchen aus zwölf getötet, als sie schlief."

Ich schlucke. Ich hoffe, dass das nicht auch mit Jinia geschehen wird.
„Die anderen Tribute scheinen ihn aber zu unterschätzen." wendet Maisie von der Seite ein.
Wir haben jedoch keine Zeit, weiterzureden, denn im Saal ist es wieder ganz still geworden, da Claudius Templesmith begonnen hat, zu reden.

„Nun, willkommen zu Tag zwei in der Arena der 73.Hungerspiele! In der letzten Nacht ist einiges passiert, was wir ihnen nun noch einmal zeigen werden!"
Dann wird eine Szene in der Dunkelheit gezeigt.
Man sieht das Mädchen aus zwölf, wie sie an einen Stein gelehnt schläft. Zuerst wirkt alles ruhig, doch dann sieht man nur die dunkle Gestalt von Nate.
Dann sieht man, wie er sein Messer zieht und es in den Körper des Mädchens rammt.
Die Kanone ist zu hören.
Ich höre, wie der einzige Mentor aus zwölf, Haymitch Abernathy, wütend sein Glas, ich vermute mal, gefüllt mit Wein, auf den Boden fallen lässt und sich dann taumelnd aufrichtet und langsam den Saal verlasst, während er irgendetwas vor sich hinmurmelt.
Claudius' Stimme ist wieder zu hören.
„Oh, mein liebstes Publikum, ich glaube, in wenigen Minuten wird es zu einem Kampf kommen!"
Dann wird wieder die Karte mit den Punkten für die Tribute angezeigt.
Mein Herz macht einen Aussetzer.
Die fünf Punkte der Karrieros sind nicht einmal 100 Meter von dem hellblauen Punkt mit der vier entfernt.
Und sie kommen Jinia immer näher.

Meine Augen weiten sich und ich spüre, wie sich eiskalte Angst in mir breitmacht.
Man sieht Jinia, wie sie leise durch ein Waldgebiet läuft.
Sie sieht erschöpft aus, und ich glaube, sie ist auf der Suche nach Wasser.
Wie die eingeblendete Karte am unteren Bildschirmrand zeigt, ist sie einem der beiden Seen auch ziemlich nahe. Hoffentlich nicht dem vergifteten...
Doch jetzt hat sie völlig andere Probleme.
Die Karrieros sind wohl unvorsichtig geworden und haben einen Ast eines morschen Baumes kaputtgetreten.
Jinia fährt herum und entdeckt die fünf Gestalten, die sie verfolgt haben.
Keine Sekunde zögert sie und beginnt, zu rennen. Und die Karrieros ihr hinterher.
Mein Herz schlägt genau so schnell wie Jinias Füße auf dem Waldboden.
Immer wieder sieht sie nach hinten, auf die immer näher kommenden Karrieros.
Meine Finger verkrampfen sich ineinander.
Plötzlich lichtet sich der Wald und Jinia läuft durch eine sandige und baumarme Gegend.
Und nur etwa fünfzig Meter vor ihr liegt ein glitzernder See.
Inzwischen sind auch die Karrieros am Waldrand angekommen und laufen nun durch den Sand.
Doch Jinia ist schnell. Schneller als sie.
Schon bald herrscht wieder einiger Abstand zwischen ihr und ihren Verfolgern.
Doch dann bemerkt sie den Fehler in ihrem Plan.
Sie bleibt keuchend stehen, am Ufer des Sees und sieht sich um.
Zuerst verstehe ich nicht, doch dann begreife ich es.
Der See hat die Form des Buchstabens „U".
Links, rechts und vor Jinia befindet sich nun Wasser.
Und hinter ihr kommen die Karrieros auf sie zugelaufen.
Panisch blickt Jinia sich um, dann flieht sie nach links.
Doch nach wenigen Metern geht das Wasser ihr schon bis zum Bauch.
Schwimmen ist der einzige Ausweg. Und Jinia kann schwimmen. Und ich wette, schneller als die Karrieros, sie kann es schon von kleinauf von Zuhause.
Ein Hoffnungsschimmer blitzt in mir auf, doch dieser wird in der nächsten Sekunde zerstört, als jemand Jinia am Arm packt.
Ich zucke zusammen.
Es ist Yuvan.
Jinia wehrt sich mit allen Kräften, doch Yuvan ist stärker und zieht sie mit Leichtigkeit aus dem Wasser, wo sie am Ufer bereits die anderen vier Karrieros umzingeln.
Mir bleibt die Luft weg.
Es gibt keinen Ausweg mehr.
Sie werden Jinia töten.
So schnell kommst du uns nicht davon, Süße..." säuselt Chrissy Jinia zu, die es jedoch mit einer geschickten Drehung von Yuvans Arm geschafft hat, sich von ihm zu befreien.
Gerade will sie die Flucht ergreifen, da packt Destiny sie am Arm.
„Das gehört sich aber nicht!" murmelt Cem in einer gespielt hohen Stimme.
„Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, wie man sich richtig benimmt? Ach ja, schon vergessen, das kann sie ja garnicht. Die Spiele haben sie zerstört."
Ich halte mir meine zittrige Hand vor den Mund.
Jinia wehrt sich immer verbitterter gegen Destiny, doch die hält sie mit Leichtigkeit fest.
„Und das selbe wird nun mit dir geschehen." flüstert sie Jinia zu, die verzweifelt versucht, an den Dolch an ihrem Gürtel zu kommen, doch Chrissy sieht, was sie vorhat und reißt ihn ihr aus der Hand.
Wieder will sie zu einem bissigen Kommentar ansetzen, da hört man die tiefe Stimme von dem Jungen aus zwei.
„Hört auf. Bringt es zu Ende." sagt er.
Chrissy scheint empört und will etwas einwenden, doch bei dem Blick, den ihr Wade zuwirft, verstummt sie gleich wieder.
Dann zieht sie sich ein langes Schwert, welches Wade ihr zuwirft.
Mit einem Tritt in den Bauch schubst sie Jinia zu Boden.
Ich will garnicht sehen, was passiert.
Ich halte mir die Hände vor die Augen und warte voller Schmerz darauf, dass ein Kanonenschlag für Jinia ertönt.
Stattdessen hört man nur einen entsetzten Schrei und ich weiß, dass er nicht von Jinia stammt.
Verwundert blicke ich wieder auf den Bildschirm und ich kann nicht glauben, was ich dort sehe.

Jumara Trenson und mit ihr der Junge aus fünf greifen die Karrieros an.
Der Junge hat Chrissy zu Boden geworfen und dabei gleich Destiny neben ihr mitgerissen.
Und Jumara hat Yuvan und Wade so überraschend aus dem Hinterhalt angegriffen, dass diese ihr und der Klinge, die sie dabei hat, völlig unterlegen sind.

„Lauf!" schreit Jumara Jinia zu, während sie einem Schlag von Wades Klinge ausweicht.
Jinia scheint genau so geschockt zu sein, von dem, was gerade passiert, dass sie Jumara erst einmal nur völlig verdutzt ansieht.

„Lauf!" schreit ihr jetzt auch der Junge aus fünf zu und nun scheint Jinia begriffen zu haben, was los ist.
Sie springt auf und rennt so schnell sie kann am Ufer davon, jedoch nicht wieder in den Wald hinein, sondern in die andere Richtung hinter dem See.
Immer wieder wirft sie Blicke zurück, wo Jumara und der Junge aus fünf immer noch gegen die Karrieros kämpfen.
Und dann ist sie zwischen den zerbrochenen Ruinen eines alten Hauses verschwunden.

Weitere Minuten sehe ich mit offenem Mund dabei zu, wie der Junge und Jumara gegen die Karrieros kämpfen.
Und dann, wie Jumara Chrissy zu Fall bringt. Und ihr ihre Klinge in den Körper rammt. Wie ein wenige Sekunden später ein Kanonenschlag für Chrissy ertönt.
Und dann, wie der Junge aus fünf sich von Destiny losreißt und dann flieht. Und Jumara mit sich reißt.
Wie die beiden es schaffen, zu entkommen und in die gleiche Richtung fliehen, in die Jinia gelaufen ist.
Und als letztes, wie die Karrieros ihnen fassungslos hinterhersehen und genau so fassungslos auf Chrissys Leiche vor ihren Füßen blicken.

Ich brauche einige Sekunden, um zu begreifen, was gerade passiert ist.
Jumara und mit ihr der Junge aus Distrikt fünf haben Jinia das Leben gerettet.
Ich denke, sie werden sich mit ihr verbünden, einen anderen Grund, warum sie sie gerettet haben, finde ich nicht.
Doch ich weiß, dass sie auch Jinia auf die selbe Weise wie Chrissy töten werden, wenn sie gewinnen wollen.

Tribute von Panem | Flammendes MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt