•prolog•

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So langsam ebbte das Rauschen in seinen Ohren ab. Der Verkehr um ihn herum nahm dadurch stetig an Lautstärke zu, sodass sein Lauf nicht mehr dem Gefühl glich, das ihn einst als Kind begleitete. Wenn er in seiner Heimat das Meer besuchte und tauchte, da legte das Wasser ihm die Hände auf die Ohren. Gedämpft lauschte er so dem Leben unter Wasser, dem Tanzen der Strömung und dem Flüstern der Wellen über ihm.
All das lag in der Vergangenheit. Er mag in den vergangenen Jahren Orte auf der Welt bereist haben, von denen andere vor Neid erblassen würden, sehnte er sich im Augenblick allerdings nach dem, was er als Kind als selbstverständlich empfand.

Ruhe.

Ruhe war auch das, was ihn in dieser späten Nacht auf die Gehwege Seouls trieb. Es kümmerte ihn nicht, dass die Uhr bereits weit nach zwei anzeigte, noch, dass er all das tat, um dem tosenden Sturm, der in seinem geteilten Zuhause wütete, zu entkommen.
Die Worte der anderen hallten ewig in seinen Gedanken auf und ab. Auch wenn er sonst die Stimme dieser Stadt mit aller Kraft versuchte von seinem Gehört fernzuhalten, war er in diesem Moment dankbar für ihre penetrante Lautstärke. Das Rauschen der Autos in der Nähe und der Ferne, das Heulen von Sirenen, das Ziehen des Windes und wie er singend durch Häuserschluchten zog - selten lauschte Jimin den Worten seines neuen Zuhauses so aufmerksam.

Es windete stark; für eine späte Herbstnacht nichts Ungewöhnliches, dennoch verzog sich der Junge aus Busan tiefer in seine dunkle Lederjacke, die Hände versteckt in den Taschen. Zuvor zog er noch die Pulloverkapuze tief ins Gesicht. Die Maske vor seinem Mund verdeckte seine bereits bebenden Lippen.
Die Ampel, der vor ihm liegenden Kreuzung zeigte rot. Als er zu dem grell-strahlenden Signal aufschaute, das Licht seine Haut fremd einfärbte, schimmerten seine benetzten Wangen auf. Er hatte noch gar nicht bemerkt, dass er weinte; zu sehr war er damit beschäftigt, dem Toben, womit seine Gedanken angesteckt worden waren, zu unterdrücken.

Namjoons Worte trafen ihn hart. Nicht nur in seinen Texten verfügte der Junge aus Ilsan eine scharfe Zunge, sondern nahm er auch kein Blatt vor den Mund, um seinem Gegenüber seine Wahrheit vorzusetzen. Namjoon nannte es Ehrlichkeit. Jimin wiederum empfand es als Verblendung. Unter den sieben war es kein Geheimnis, dass ihr Leader von Zeit zu Zeit die Geduld verlor, sein Faden doch so kurz.

„Heuchler."

Das Zischen des Jungen war zwischen den vorbeifahrenden Autos kaum zu hören.
Jimin ballte die Hände zu Fäusten. Grund dafür war mehr sein sich anstauender Zorn, als die Kälte, die langsam aber sicher in das Innere seiner Jackentaschen kroch und begann an der trockenen Haut seiner Hände zu knabbern. Eisige Zähne, nicht dicker als ein Reiskorn, schabte über das zarte Fleisch.

„Lass mich in Ruhe!"

Für einen Augenblick verschloss er die Augen, die zuvor in ein grelles Grün gehüllt wurden. Jimin kannte es, von den Stimmen und Gesichtern seiner Erinnerungen heimgesucht zu werden. So wie die Bilder in seinen Gedanken festhingen - wie böse Träume in einem Traumfänger - so verhedderten sich auch Ausschnitte in seinem Verstand, die sich ihm in Momenten offenbarten, in welchen er sich nach nichts mehr als Ruhe sehnte.

Ein gefundenes Fressen war dieser Tag für seine Schwäche.

Als er die Augen wieder öffnete, verschwand das erzürnte Gesicht seines Hyungs auch wieder. Die Wangen gerötet, die Lippen verzogen. Namjoon durchbohrte ihn förmlich mit seinem Blick. Jin würde sagen: Die pure Verzweiflung sprach aus ihrem Leader.
Jimin aber wusste es besser.

„Dir bleiben die Lügen noch im Halse stecken."

Der Junge sah ein, dass kein Ankommen gegen seine tosenden Gedanken war. Es war der Versuch wert. So lange hielt er der Stimme der Stadt noch nie stand.
Steife Hände griffen nach dem Smartphone und Earphones in seinen Jackentaschen. Der Bildschirm leuchtete hell, deutete ihm beiläufig etliche verpasste Anrufe an. Von den sich überschlagenden Nachrichten nicht zu sprechen.

Blame  | PJMWhere stories live. Discover now