Kapitel 68 - Letzter Eintrag

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Wenige Minuten zuvor

»Ich habe es«, schrie Milano durch das Haus und Sekunden später kam er mit dem Tagebuch von Samuel in der Hand ins Wohnzimmer gerannt.

Sofort lag Tamo sein Blick auf dem alten Notizbuch, welches in einen Zippbeutel eingepackt war.

»Sie hatte es in der Klospülung versteckt«, raunte Milano und gab es Tamo.

Tamo runzelte die Stirn.

Milano zuckte nur mit den Schultern und ehe sie weiter spekulierten, nahm Tamo das Buch aus der Tüte und schlug es auf. Er überflog die ersten Seiten. Die Worte kannte er bereits, denn es waren dieselben, die Skàdi ihnen vorgelesen hatte. Doch als er die nächste Seite umschlug, stockte er. Sie hatten recht, sie hatte nicht alles vorgelesen. Tamo sah in die verwirrten Gesichter von Alice und Milano. Er schluckte, ließ sich auf die Couch fallen und begann laut vorzulesen.

~~~

Ich weiß wieder nicht, wo ich anfangen soll. Die letzten Stunden haben mein gesamtes Leben verändert. Mir fehlen die Worte und ich weiß nicht, ob ich jemals begreifen werde, was eben passiert ist.

Meine Schwester Hope ist tot, so wie ich es auch gewesen war. Und dennoch sitze ich hier und schreibe diese Zeilen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, aber ich habe das Gefühl, dass ich das Gesehene aufschreiben muss, um es greifen zu können.

Sie hatte es wieder getan. Meine Mutter hatte mich am Morgen aus dem Bett gezogen, mich auf einen Stuhl gesetzt und mir erneut diese schwarze Flüssigkeit in die Venen gejagt. Der Schmerz war zu meinem Alltag geworden und langsam glaubte ich daran, dass er mich eines Tages nicht mehr interessieren würde. Wie immer setzte sie unmittelbar danach eine Spritze mit Hopes Blut an und wie immer passierte nichts.

Hopes Blut und ihre Fähigkeiten ließen sich nicht auf mich übertragen. Ich hatte das schon lange verstanden, doch meine Mutter schien besessen davon zu sein. Doch es endete immer gleich. Sie drehte durch. Schlug und beleidigte mich, nur um mich dann allein zu lassen. Doch ich ertrug es, denn wenn ich das nicht tat, drohte sie damit, Hope etwas anzutun. Und auch wenn ich nachweislich nicht ihr leiblicher Bruder war, liebte ich sie und würde sie mit allem, was ich hatte, beschützen.

Nachdem Mum sich beruhigt hatte, ließ sie mich allein. Sie verschwand mit Hope und ich wusste, dass es an der Zeit war. Ich musste Hope und mich von ihr befreien und so ging ich nicht, wie sonst, ins Bett, sondern quälte mich in den Keller. Die Schläge meiner Mutter wurden mit jedem Mal härter und ich glaubte fest daran, dass sie mich eines Tages umbringen würde. Aber bevor es dazu kommen sollte, würde ich dafür sorgen, dass sie stirbt.

Im Keller angekommen, ging ich zu dem großen Schrank, der mit einem Zahlenschloss gesichert war. Meine Mutter glaubte immer noch, dass ich nichts von alledem hier wusste. Tja, ihre Unwissenheit war mein Vorteil. Sie hatte nicht bemerkt, dass ich mich eines Nachts hierher geschlichen hatte und sah, wie sie die Tür öffnete. Und so konnte ich ohne Probleme dieses Schloss beseitigen. Vor mir taten sich viele kleine Ampullen der schwarzen Flüssigkeit auf und ich zögerte nicht. Regalboden um Regalboden ließ ich die Ampullen auf dem Steinboden zerbrechen, bis nichts mehr davon übrig war. Doch ich wusste, dass das nichts bringen würde, solange die Aufzeichnungen unserer Vorfahren noch vorhanden waren.

Also schnappte ich mir jedes einzelne Buch, welche dank meiner Mutter, säuberlich aufgestapelt auf einem der Schreibtische lagen. Ich trug sie nach draußen und entzündete ein Feuer in unserem Garten. Als die Flammen hoch genug waren, begann ich Buch um Buch hineinzuwerfen. Ich sah dabei zu, wie sie in Flammen aufgingen und mit ihnen das Wissen um diese Abscheulichkeiten. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß und in die Flammen starrte, doch die hasserfüllten Schreie meiner Mutter holten mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich hatte mich verloren in den Flammen und so war ich ihrem Zorn schutzlos ausgeliefert. Und schlimmer noch. Ich hatte nicht alle Aufzeichnungen verbrannt. Ich wollte eigentlich vorbereitet sein und sie direkt töten, aber nun ... nun saß ich an dem Feuer und musste dabei zusehen, wie sie mit Hope im Arm auf mich zu gerannt kam. Sie schrie, denn sie hatte das Chaos in ihrem Keller gesehen und ihr waren wohl auch die verschwundenen Bücher aufgefallen. Ich erinnere mich nicht, was sie mir entgegen brüllte. Ich sehe nur noch die Tränen und die Angst in Hopes Augen, doch ehe ich etwas unternehmen konnte, ohne Hope dabei zu verletzten, sah ich den Hammer in der Hand meiner Mutter.

Ich sah noch, wie sie ihn anhob. Ich wollte flüchten oder sie stoppen, aber sie hielt immer noch Hope fest in ihren Armen und so ließ ich es einfach geschehen. Ich spürte, wie das kalte Metall gegen meine Schläfe traf. Ich spürte den reißenden Schmerz, der durch meinen Kopf schoss, und ich sah die Dunkelheit, die mich in ihr endloses Nichts zog.

Dunkelheit umgab mich. Ich spürte keine Schmerzen. Keine Ängste. Keine Schwere. Da war ein endloses Nichts und ich weiß noch, dass ich mich sicher fühlte. Doch plötzlich war da diese Wärme, die sich durch meinen Körper fraß. Erst ganz schwach, doch immer stärker werdend. Die Dunkelheit um mich färbte sich langsam rot ein und es fühlte sich an, als würde ich langsam nach oben gezogen werden. Die Wärme wurde immer intensiver, ebenso wie der rote Schleier, der sich immer enger um mich legte und plötzlich, war ich wieder da.

Ich lag neben dem Feuer und starrte auf den bewusstlosen Körper meiner Mutter. Sie lag gekrümmt neben mir. Ein Stöhnen erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich sah in die andere Richtung und da sah ich sie. Hope. Ihre Iris schien rot zu glühen, ihre kleinen Hände lagen auf meinen Körper. Sie war es. Sie schickte diesen roten Schleier um meinen Körper. Sie schenkte mir diese Wärme.

Ich rutschte zu ihr und lächelte sie an.

»Ich liebe dich, Bruder.«

Ich stockte, sie sprach fast nie und noch nie hatte sie diese Worte in den Mund genommen. Ich strahlte sie an, doch plötzlich erlosch das Glühen in ihren Augen und auch der rote Schleier verschwand. Sie sah mich ein letztes Mal an und fiel im nächsten Moment einfach leblos zu Boden. Ich schrie auf, flehte sie an, aufzuwachen. Ich versuchte, sie zurückzuholen, aber sie war tot. Einfach gestorben.

Stunden saß ich an derselben Stelle und hielt den leblosen Körper meiner Schwester an mich gedrückt und langsam verstand ich es.

Sie hatte ihr Leben für meins gegeben. Liebe hatte sie dazu gebracht, sich zu opfern.

Und als mir das endlich klar wurde, spürte ich, wie die Kälte und Dunkelheit in meinen Geist zogen. Ich stand langsam auf und ließ Hope sanft zu Boden gleiten. Ich gab ihr einen letzten Kuss und sah dann zu meiner Mutter. Ich hätte sie töten können, aber das wäre zu einfach.

Nein, sie soll sehen, wozu ihr Sohn imstande ist. Ich werde ihr zeigen, dass ich kein Versager bin. Ich werde Fähigkeiten erschaffen und ich werde es sein, der diese alle in Besitz nehmen wird ...

~~~

Damit endete Tamo. Er schluckte, denn als er das Buch gerade weglegen wollte, fielen zwei einzelne Blätter Papier heraus. Sie sahen alt aus und er runzelte die Stirn. Vorsichtig faltete er sie auseinander und als er verstand, was auf diesen Seiten stand, schien etwas in ihm hervorzubrechen.

Seine Augen begannen rot zu glühen und ehe Alice oder Milano etwas sagen konnten, drehte er die Blätter so, dass auch sie diese lesen konnten.

Geburtsurkunde

Shetter, Tamo. Männlich. 29. 10. 1989. 5.55 Uhr.

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Geburtsurkunde

Shetter, Tami. Weiblich. 29. 10. 1989. 5.59 Uhr.

𝑺𝒌𝒂𝒅𝒊 - 𝑳𝒐𝒔𝒕 𝒊𝒏 𝑫𝒂𝒓𝒌𝒏𝒆𝒔𝒔 ✔️Where stories live. Discover now