Kapitel 5

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Kaito POV:

„Okay, Kaito", meinte das Mädchen, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Jetzt war ich alleine mit ihr. Ohne Shinichi.

Es kam mir etwas merkwürdig vor, dass ausgerechnet dieses kleine Mädchen mir helfen können sollte. Zumindest hatte Shinichi gesagt, dass sie es könnte, als er mich gefragt hatte, ob ich hierher kommen wollte. Außerdem hatte sie irgendetwas an sich, das ihr eine natürliche Autorität verlieh. Sie wirkte keinesfalls wie ein kleines Mädchen. Sie wirkte eher wie...

„Zieh bitte dein Oberteil aus", unterbrach sie meine Gedanken. Ich stutzte. War das ihr Ernst? Als ich ihren Blick sah, der tatsächlich pure Ernsthaftigkeit widerspiegelte, schluckte ich. Sie machte wohl keine Späße.

Also tat ich wie mir geheißen und zog mein Oberteil aus. Zumindest versuchte ich es. Denn es tat höllisch weh, meine Arme zu heben. Mein Kreislauf meldete sich mit einem unangenehmen Fiepen und einem leichten Schwindel zu Wort, welchem ich nur mit größter Mühe standhalten konnte. Ohne die Schmerzmittel, die Shinichi mir vorsorglich gegeben hatte, wäre ich wohl kaum in der Lage dazu gewesen.

Das Mädchen, das Shinichi Shiho genannt hatte, machte sich schnell ein paar Notizen. Mir stand der Schweiß auf der Stirn und ich war völlig aus der Puste. Hoffentlich wollte sie nicht meine Kondition testen.

„Stell dich bitte auf die Waage dort", meinte sie dann monoton. Also stieg ich auf die Waage rechts im Raum. Es war eine analoge Waage, auf der ein weiterer Balken mit Beschriftungen wie 'Gut', 'Keine Süßigkeiten mehr' und 'DIÄT' standen. Was sollte das bitte bedeuten? Ich war jedenfalls nicht mal bei der Hälfte des eingezeichneten scheinbaren Maximalgewichts, bis eine Diät anzustehen schien.

„58 Kilogramm", las Shiho von der Anzeige ab. Ich hatte das Gefühl, dass sie damit nicht ganz zufrieden war.

Dann holte sie ein Maßband, rückte einen Hocker neben mich, stellte sich darauf und maß meine Größe. „1,74 Meter", meinte sie und schrieb es ebenfalls nieder.

Danach nahm sie noch weitere Daten auf, wahrscheinlich, um meinen derzeitigen Zustand festzuhalten. Dann durfte ich mein Oberteil wieder anziehen.

Als das erledigt war, notierte sie schnell etwas auf einen weiteren Zettel, den sie mir dann reichte. Dort standen einige Worte, die wild zusammengewürfelt schienen. „Lies die Begriffe und präg' sie dir ein. Du hast drei Minuten dafür. Danach werde ich sie abfragen."

Ich nickte. Obwohl ich noch immer etwas irritiert war und mich nicht so richtig konzentrieren konnte, versuchte ich so gut wie möglich, diese komischen Worte zu behalten. Bei einigen von ihnen überkam mich ein merkwürdiges Unwohlsein. Doch immer, wenn ich versuchte den Grund dafür herauszufinden, war eine gähnende Leere in meinem Kopf, begleitet von einem tiefen Schmerz, der weit über meine mir unerklärlichen Verletzungen hinausging.

Nur schwer schaffte ich es, nicht wieder die Fassung zu verlieren, wie ich es bei der Unterschrift zuvor schon beinahe getan hatte. Aber da war Shinichi bei mir gewesen. Ohne ihn fühlte ich mich plötzlich so einsam. Fast schon schutzlos. Verletzlich. Schwach.

Ich vergrub meinen Kopf in den Händen und schloss für einen kurzen Moment meine Augen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass endlich alles vorbei war. Ich wollte nicht mehr. Nicht mehr unwissend sein. Nicht diese Angst spüren.

Ich atmete tief durch. Wenn ich es wirklich schaffen wollte, diesem Zustand zu entkommen, musste ich wohl oder übel diese Tests durchführen. Wenn Shinichi glaubte, dadurch weiterzukommen, dann vertraute ich ihm. Etwas anderes blieb mir gerade sowieso nicht übrig.

Nach drei Minuten hörte ich auf und Shiho nahm den Zettel wieder an sich. „Okay. Nenne bitte die Begriffe."

Ich holte tief Luft. „Haus, Diamant, Schale, Buch, Bild, Stein, Pflanze, Flasche, Wand, Eimer, Spiegel, Fenster, Birne, Lampe, Schirm, Blatt, Holz, Uhr, Wasser, Tier."

Die Kleine nickte. „Gut. Sogar in der richtigen Reihenfolge." Sie machte mit mir noch weitere kleine Übungen, einige schienen auf den genannten Worten aufzubauen. Was genau sollte das bringen? Wollte sie herausfinden, wie gut ich mir Begriffe merken und sie sortieren konnte?

Irgendwann hörte sie damit auf. Stattdessen fragte sie mich einige Daten ab. „Weißt du, welcher Tag heute ist?"

„Klar, heute ist..." Ich blinzelte verwirrt. „Heute ist..." Was war los? Konnte ich mich etwa nicht mal an den Wochentag erinnern?! Ein quälender Schauer der Verzweiflung durchfuhr mich. Mein Körper war unangenehm angespannt und mir war schlecht.

Nachdem mir das Mädchen ein Glas Wasser gereicht hatte, führte sie mit mir weitere Tests durch und verzog bei keinem von ihnen ihre Miene. Ihr Gesicht war wie aus Stein. So wäre ich auch gerne. Sich einfach nichts anmerken lassen. Es verlieh ihr eine Art Stärke. Wie schaffte sie das? Werde ich das auch jemals können? Oder... konnte ich es vielleicht sogar einmal?

Irgendetwas tief in mir zog sich zusammen. So fest, dass ich kaum Luft bekam. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Warum? Warum nur?!

„Halte durch, Kaito", kam es von dem Mädchen. „Du hast es fast geschafft."

Ich weiß nicht, wie lange das noch so ging. Sie stellte mir fragen, ich antwortete. Sie schrieb etwas auf. Dann stellte sie wieder Fragen. Ein ewiger Kreislauf.

Irgendwann hatte sie endlich ihren Stift beiseitegelegt und mich einen Moment lang angesehen. Sie stellte eine letzte Frage. „Weißt du, wer Kaito KID ist?"

Kaito KID? Schwindel überkam mich. Kaito... Das war doch mein Name... Oder? Und KID? Was sollte das heißen? Alles in mir weigerte sich, weiter an diesen Namen zu denken. Mir wurde schwarz vor Augen. Dumpf hallte der Name in meinem Kopf wider. KID... KID... KID...

„Ist alles okay bei dir?", hörte ich eine Stimme neben mir sagen. Sie klang so furchtbar weit weg. dann spürte ich eine Hand auf meinem Rücken. Sie war warm. Ich blickte zur Seite. Shinichi. „Ihr habt ziemlich lange gebraucht, deswegen wollte ich mal nachsehen."

Ich nickte nur benommen. Ich fühlte mich so leer. Was war geschehen? Ich horchte tief in mich hinein. Vollkommene Stille empfing mich. Ich wollte hier weg.

Nur entfernt nahm ich wahr, wie Shinichi und das Mädchen ein paar Worte wechselten. Danach nahm mich Shinichi vorsichtig am Arm und führte mich zu der Bank, wo er und das Mädchen zuvor gesessen hatten.

„Du solltest dich eine Runde ausruhen", meinte er. „Ich bin gleich wieder da." Mit diesen Worten verschwand er kurz. Ich wartete nicht auf ihn. Ich legte mich hin und schloss meine müden Augen. Noch immer drehte sich alles. Um mich herum. In mir. Viele Gedanken. Im Nichts.

Wer bin ich?

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Anmerkung:

Shihos Tests habe ich hier nur grob beschrieben. Sie bezieht sich dabei aber unter anderem auf den Berliner Amnesietest (BAT), der etwa 9 Teile umfasst. So genau kenne ich mich hier leider (noch) nicht aus, aber wenn es euch interessiert, steht im Internet einiges dazu :D

Amnesie - ShinKai (DCMK)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt