Kapitel 4

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Shinichi POV:

Ich holte tief Luft, bevor ich die Klingel betätigte. Einen letzten Blick warf ich noch auf den Dieb. Es hatte ihn einiges an Kraft gekostet, dieses kurze Stück hierher zu laufen. Er war vollkommen außer Atem, sogar kleine Schweißtröpfchen hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

Nach dem Frühstück hatte ich seine Verbände noch einmal gewechselt. Anscheinend ging es ihm bereits ein erhebliches Stück besser, auch wenn mir sein Zustand dennoch Sorgen bereitete.

Ich hatte versucht mit ihm zu reden, jedoch hatte er kaum ein Wort von sich gegeben. Er war verunsichert, hatte Angst. Wer würde das in seiner Lage nicht haben? Trotzdem schien er mir ein Stück weit zu vertrauen, vielleicht auch, weil ich derzeit die einzige Person in seiner Nähe war. Deshalb hatte er wohl auch zugestimmt, mich zu diesem Haus zu begleiten.

Aber war es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, jetzt schon her zu kommen? Vielleicht brauchte der Dieb noch mehr Zeit, bevor ich andere involvierte. Es war nicht auszuschließen, dass er sich im Laufe des Tages vielleicht doch an einige Dinge erinnern konnte. Und dennoch – ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir seine Lage schnellstmöglich klären sollten.

Ich hatte ohnehin keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die Tür öffnete sich mit einem dumpfen Quietschen, was mich unwillkürlich zum Schmunzeln brachte. Professor Agasa hatte sich eigentlich schon letzte Woche darum kümmern wollen.

Jedoch kam nicht er nun hinter der Tür zum Vorschein, sondern ein Mädchen, das mich sogleich mit einem Was-willst-du-denn-hier-Blick etwas genervt ansah. Genau wegen ihr waren wir hier.

„Hallo Shiho", sagte ich zu der eigentlich Erwachsenen, die sich dazu entschieden hatte, im Körper eines Kindes an der Seite des chaotischen Professors und den Detective Boys zu verweilen.

Sie zog eine Augenbraue nach oben und sah mich mit einem Blick an, der alles andere als einladend war. Ich brauchte gar nichts weiter zu sagen. Dann seufzte sie. „Ich denke mal, es geht um den da, richtig?", fragte sie und wies mit dem Kinn auf KID, der sich sichtlich bemühte, seine Verwirrung sowie seine Erschöpfung zu verbergen. Das allerdings mit minimalem Erfolg.

Ich nickte und mit einem weiteren Seufzer von Seiten der kleinen Wissenschaftlerin wurden wir schließlich hineingelassen.

„Setz du dich erst einmal dort hin, in Ordnung?", meinte ich an den Dieb gewandt und deutete auf einen Stuhl etwas weiter hinten im Raum. Shiho und ich ließen uns derweil auf der Sitzbank nieder, wo sie mich sofort mit ihrem Blick durchbohrte.

„Was hast du jetzt schon wieder angestellt?", wollte sie im etwas schnippischen, wenngleich auch neugierigen Ton von mir wissen.

Ich räusperte mich. „Nun ja", begann ich, etwas unsicher, was genau ich ihr eigentlich erzählen sollte. Eigentlich wollte ich vermeiden zu sagen, dass es sich bei diesem mit Wunden übersäten, zittrigen Menschen um Kaito KID höchstpersönlich handelte. Aber blieb mir eine andere Wahl, wenn ich ihre Hilfe wollte? Und wie ich sie einschätzte, hatte es ohnehin keinen Zweck, es zu verheimlichen.

Bevor ich weitersprechen konnte, kam sie mir zuvor. „Er ist es, oder?"

Ich blickte sie irritiert an. „Wie meinen?"

Sie deutete auf den Dieb. „Der Phantomdieb, Meisterdieb 1412, Kaito KID oder wie auch immer du ihn nennen möchtest."

Ich schmunzelte. Mir war klar gewesen, dass sie KID früher oder später erkennen würde, doch so schnell hatte ich damit nicht gerechnet. Nun, vielleicht würde das das ganze etwas beschleunigen. Dennoch fragte ich aus reiner Neugier: „Wie kommst du darauf?"

„In den Nachrichten hieß es, dass es bei seinem Diebstahl gestern eine Schießerei gegeben haben soll. Dort soll er sich zudem atypisch verhalten haben und plötzlich verschwunden sein. Wobei letzteres wohl das am wenigsten Ungewöhnliche an seiner Erscheinung sein sollte. Ich vermute, dass er dort verwundet worden ist und du ihn dann irgendwo aufgegabelt hast. Außerdem seht ihr euch verdammt ähnlich und ich weiß, dass KID das ebenfalls müsste", antwortete sie nüchtern.

Ich bestätigte ihre Schlussfolgerungen. Während der Dieb geschlafen hatte, hatte ich genügend Zeit gehabt, um eine Handvoll schwammiger Artikel zu dem Vorfall zu lesen und war zu einem sehr ähnlichen Schluss gekommen. „Du hast recht. Er ist KID. Allerdings weiß er es nicht, oder vielmehr, nicht mehr."

Shiho zog erneut ihre Augenbraue hoch. „Was soll das heißen?"

„Ich habe ihn gestern Abend vor meinem Anwesen gefunden, er war völlig verschreckt. Es stellte sich heraus, dass er sich an nichts erinnern kann. Zumindest gehe ich stark davon aus."

„Amnesie?"

Ich nickte. „Genau deshalb brauche ich deine Hilfe. Du kennst dich in diesem Bereich um einiges besser aus als ich."

„Das kann schon sein", meinte sie. „Ich soll ihn also durchchecken und herausfinden, welche Ursache sein Gedächtnisschwund haben könnte und ob ihm noch weiteres fehlt?"

Ich nickte noch einmal. Sie sah mich einen Moment lang schweigend an und blickte dann zu dem Dieb rüber, der gedankenverloren mit einem Stift spielte. Dann seufzte sie ein weiteres Mal.

„Also schön", sagte sie. „Ich werde sehen, was ich tun kann."

Meine Stimmung hob sich augenblicklich. „Danke, Shiho!", rief ich freudig.

„Nicht so schnell", stoppte sie mich. „Mach dir nicht allzu große Hoffnungen, Shinichi. Ich kann nicht garantieren, dass ich den Grund für seinen Gedächtnisverlust herausfinden, geschweige denn diesen rückgängig machen kann."

„Ich weiß", sagte ich ernst. Natürlich hoffte ich, dass sie uns dabei helfen konnte. Aber ich wusste auch, dass sie nichts Unmögliches vollbringen konnte.

„Gut", sagte sie. „Dann werde ich mal anfangen." Mit diesen Worten nahm sie einen zufällig herumliegenden Zettel und trat zu dem Dieb. „Ich brauche nur kurz deine Unterschrift, dann können wir beginnen", meinte sie lässig zu KID.

„Ist gut", meinte dieser noch immer etwas in Gedanken verloren und ergriff den Zettel, um zu unterschreiben.

Diesen Trick hatte ich schon einmal gesehen. Unbewusst würde er uns zumindest seinen Namen verraten, denn die Unterschrift tat man meist automatisch, ohne darüber nachzudenken. Gebannt sah ich dabei zu, wie er mit dem Stift, mit welchem er zuvor so elegant herumgespielt hatte, über das Blatt glitt. Auch jetzt noch, wo er sich scheinbar an nichts erinnern konnte, hatte er eine gewisse Anmut, die sich kaum beschreiben ließ.

Doch dann stoppte er abrupt. Er hatte das Wort noch nicht zu Ende führen können, da sah er mich an, direkt in meine Augen. Wieder war da diese Verzweiflung, zwar nur ein Hauch, aber sie war da. Tief in ihm. Was hatte das zu bedeuten?

Shiho nahm ihm das Blatt unter seiner zitternden Hand weg und sah auf das, was er geschrieben hatte. „Kaito K", las sie laut. „Zumindest deinen Vornamen kennen wir nun."

Kaito. Der Name klang für ihn scheinbar fremd. So fremd wie alles andere. Ich sah, wie er sich verkrampfte.

Auch ich spannte mich kaum merklich an. Wir hatten einen Anfang gefunden. Kaito... Ein weiteres Mal schossen mir unheimlich viele Fragen durch den Kopf. Doch ich würde sie jetzt nicht weiter vertiefen.

„Warte hier, Shinichi. Ich werde mit ihm einige kleine Tests durchführen."

„In Ordnung", meinte ich. „Ich warte hier. Doch wenn irgendetwas sein sollte, ruft bitte sofort nach mir."

Die Wissenschaftlerin sah mich einen Moment wiederschweigend an. Doch ich achtete kaum darauf. All meine Gedanken konzentriertensich auf KID, darauf, wie ich ihn unterstützen konnte. Er sollte so schnell wiemöglich wieder zu seinem alten Ich finden. Dafür würde ich schon sorgen.

Amnesie - ShinKai (DCMK)Where stories live. Discover now