1 Monat später

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Aidan war inzwischen bis auf das Wochenende fast jeden Tag nach Feierabend in der Praxis. Wir verstehen uns wirklich gut, der Kleine ist gar nicht so klein, wie ich dachte. Er ist gerade mal drei Jahre jünger als ich und verdammt schlau, wie ich feststellen durfte. Den Job als Barista macht er nur neben seinem Archäologiestudium, welches er im kommenden Jahr abschließen wird.

Gestern hat er auf einmal meine Hand genommen und ich war wie erstarrt. Sicherlich war mir von Anfang an klar, was seine Absichten sind, aber bin ich bereit dafür? Es ist gerade mal einen Monat her, dass Mason mich so Hals über Kopf verlassen hat, doch der Schmerz in mir, wenn ich an ihn denke, ist noch genauso frisch, als wäre es erst heute Mittag geschehen.

Entschuldigend habe ich Aidan angesehen und meine Hand aus seiner gezogen und er hat gelächelt und gesagt: „Schon okay, André. Ich laufe nicht weg."
Seine Worte haben mir fast das Herz gebrochen und ich bin nervös aufgestanden, habe ihm erklärt, dass ich noch laufen müsste und wir uns ja die Tage sehen würden. Er hat nur verständnisvoll gelächelt und genickt und mir gesagt, dass er sich darauf freut.

Ich muss ihm klarmachen, dass ich derjenige bin, der wegläuft.

„Hallo André", sagt plötzlich eine Stimme hinter mir und Mrs. McLean steht mit einem schlaksigen Mann neben sich da.
„Hi Mrs. McLean", begrüße ich sie freundlich und lasse mich von ihr in eine Umarmung ziehen.
„Du darfst auch gern Kate sagen", bietet sie mir nach ihrer jahrelangen Patientenkarriere endlich an. Sie drückt mir einen absurd großen Geschenkkorb in die Hand, der in durchsichtige Folie gehüllt ist und ein Blick hinein verrät mir, dass weder Val noch ich von dem Dosenfleisch oder der luftgetrockneten Blutwurst etwas mögen werden.

„Das ist von John und mir", erklärt sie stolz. „Er ist Schlachter, das ist alles von ihm gemacht."
„Wow." Angestrengt zwinge ich mir ein Lächeln auf. „Wie aufmerksam. Meinen vollsten Respekt für diesen Beruf, John."
Der schlaksige Mann mit dem schütteren Haar lächelt selbstgefällig und beginnt sofort, auf das Thema einzusteigen. „Ja, das kann nicht jeder. Die meisten Menschen sind dafür zu weich, dafür muss man richtig Körner haben und es ist für mich auch eine Art Kunst, wenn man die Viecher–"

Zu meiner Erlösung kommt in diesem Moment Doug in den Garten von Vals Eltern geschlendert und ich unterbreche John äußerst gern. „Entschuldigen Sie mich bitte kurz, ich schätze, es geht langsam los, ich muss Mr. Higgins begrüßen."
John und Kate nicken verständnisvoll und John fügt hinzu: „Wir können ja nachher noch weiter darüber sprechen."

Und schon weiß ich, welchen Tisch ich für den Rest des Abends meiden werde, als ich zu meinem Kumpel gehe. „Hi Doug, schön, dass du da bist", grüße ich ihn und lasse mir freundschaftlich auf die Schulter klopfen.
„Danke für die Einladung, André." Er blickt sich begeistert um.
„Hallo? Du bist mein bester Kunde, so oft wie du dein Knie malträtierst!", lache ich.
„Ach, ich sollte vielleicht doch mit dem Badminton aufhören", überlegt er und ich schüttle wild den Kopf.
„Dann kann ich ja direkt zumachen!"

Nach und nach füllt sich der Garten mit weiteren Gästen und alle sind ausgelassen und fröhlich. Die meisten haben sich schon mal im Wartezimmer gesehen und nutzen die Gelegenheit, sich besser kennenzulernen. Vals Eltern strahlen um die Wette, Val ist Einzelkind und war nie die Tochter, die gern Partys schmeißen wollte. Umso fröhlicher sind die beiden nun, dass auch ihre Nachbarn mal durch fröhliches Gerede und den Duft von Gegrilltem erheitert werden. Zu Vals und meiner Erleichterung freut sich ihr Dad unheimlich über den Präsentkorb der McLeans, bekommt er doch sonst nie gutes Dosenfleisch irgendwo.

Als es allmählich dunkel wird und alle in Gespräche vertieft sind, gönne ich mir einen Moment der Ruhe und setze mich auf eine kleine Bank am hinteren Ende des Gartens, um dem Treiben zuzusehen. Mein Sektglas stelle ich neben mir auf dem Rasen ab und erlaube meinem Lächeln, das sich wie festgetackert anfühlt, für den Augenblick mein Gesicht zu verlassen.

Alles läuft wie geplant. Meine Freunde und Patienten verstehen sich gut, ich habe alle Lieben um mich herum und bin dankbar für diesen Abend. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass meine Gedanken zu Mason wandern. Was er jetzt wohl gerade tut? Ist er glücklich? Denkt er manchmal an mich?

Nur ganz kurz lasse ich den Schmerz in meinem Herzen zu, genug, um nicht wieder vollkommen daran zu zerbrechen, bevor ich mich wieder verschließe.

Eine Hand greift plötzlich meine und ich zucke zusammen. Ich schaue auf und blicke in Vals sanfte, grüne Augen.
„Hey", mache ich und tackere mein Lächeln wieder fest.
„Du denkst an ihn, oder?"
„Nicht heute, okay Val?", presse ich erstickt hervor und sehe hinab auf unsere Hände.
„Ich ... hab ihm eine Einladung geschickt", gibt sie zu und ich reiße entsetzt meinen Kopf zu ihr herum.
„Was??", zische ich entsetzt und spüre bereits wie sich verräterische Tränen hinter meinen Augen sammeln.
„Es tut mir leid, André", jammert sie. „Du warst ... bist so fertig wegen ihm und ich hatte gehofft, wenn er kommt, dass ihr–"

„Und?", mache ich zynisch und zeige auf die ganzen Menschen im Garten. „Siehst du ihn irgendwo?"
„Nein", gibt sie kleinlaut zu.
Resigniert lasse ich meinen Kopf hängen. „Weil es ihm egal ist. Weil ich ihm egal bin."
„André, das glaube ich nicht", will sie mich beruhigen, doch ich stehe auf. „Wo willst du hin?"
„Laufen", antworte ich.
„André, wir sind mitten in deiner Party."
„Ist mir egal, ich muss kurz hier weg." Ich stapfe zurück zum Haus, vorbei an meinen plappernden Gästen.

Ich stürme schon fast durch den Flur, reiße die Haustür auf und renne die Stufen herunter. An der Straße hält ein Auto, doch ich ignoriere es. Rechts oder links lang? Ich entscheide mich für links, dann muss ich nicht an dem Auto vorbei. Zwar trage ich eine enge Jeans und keine Laufsachen, aber dennoch setze ich mich in Bewegung.

„André", ruft jemand hinter mir und ich erstarre, denn die Stimme sorgt dafür, dass mein ganzer Körper in Gänsehaut ausbricht. Mason.

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