Der magische Ort

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Carla, Bruno

Das kleine Mädchen mit den lockigen, schwarzen Haaren rannte die Treppe des magischen Hauses hinunter, das sich in eine Rutsche verwandelte. Lachend rutschte sie die letzten Zentimeter hinab, strich sich ihr schwarzes Kleid glatt und stand dann auf. Ihr Vater kam die Treppe hinunter und blieb atemlos stehen.
"Carlita, mi vida, du bist zu schnell für deinen alten Vater!", keuchte Bruno und wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn. Seit einer halben Stunde schon spielte er mit seiner sechsjährigen Tochter Fangen und so langsam kam er wirklich aus der Puste. Er war zwar erst Mitte zwanzig, aber das ungestüme und aufgeweckte Temperament seiner Tochter brachte ihn doch an seine körperlichen Grenzen. Carla ging zu ihrem Vater, der sich auf die Knie stützen musste, um Luft zu bekommen und umarmte ihn.
"Du bist doch nicht alt, Papá!", wandte sie lächelnd ein. "Du musst nur mehr fangen spielen, dann kannst du auch besser atmen!" Bruno lächelte seine erstgeborene Tochter an. Sie war sehr rücksichtsvoll und kam in so gut wie jeder Hinsicht nach ihm. Sie hatte die gleichen Haare, den gleichen Charakter und auch ihre Augen leuchteten, wenn sie ihre Gabe, das Gedankenlesen, einsetzte. Es wäre unmöglich, sie als seine Tochter zu verleugnen, selbst, wenn er es gewollt hätte. Aber das würde er nie tun, er liebte seine Kleine bedingungslos. Er würde alles für sie tun, ganz egal, was es war. Beim Lächeln verzog sich auch ihre Narbe am Kinn, die sie vor einem Jahr durch eine schreckliche Verletzung erhalten hatte, aber auch diese Besonderheit gefiel ihm an seiner Tochter. Es machte sie einzigartig und bewies, wie mutig sie gewesen war. Carla selbst hasste ihre Narbe. Sie versteckte sie so gut es ging hinter ihren Haaren und spielte nicht mit den anderen Kindern, um sie nicht zu verschrecken. Die meiste Zeit saß sie in Brunos altem Geheimzimmer hinter den Wänden und versteckte sich, um keinem begegnen zu müssen. Sie war wirklich traurig wegen ihrer Narbe und so glücklich wie heute, war sie nur ungefähr ein Mal im Monat. Dass sie heute so ausgelassen spielte, freute Bruno sehr. So sah er seine Tochter am liebsten.
"Danke, amor", erwiderte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Also? Was wollen wir jetzt machen? Ich brauche eine Pause vom Fangen!" Das kleine Mädchen dachte angestrengt nach, doch schüttelte dann den Kopf.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie unsicher.
"Dann habe ich eine Idee", erwiderte Bruno und grinste sie an. "Vertraust du mir?"
"Ja, natürlich", stimmte Carla zu. "Was hast du vor?"
"Komm einfach mit, wir gehen eine Runde spazieren." Er nahm seine Tochter an die Hand, bevor sie zusammen die Casita verließen und in den Wald gingen. Carla betrachtete die vielen Palmen und Bäume um sich herum neugierig. Sie war zwar schon oft im Wald gewesen, aber sie fand es trotzdem jedes Mal magisch, hierher zu kommen, besonders mit ihrem Vater, mit dem sie am liebsten Zeit verbrachte. Die beiden waren ein Herz und eine Seele und seit der Sekunde ihrer Geburt, waren die beiden unzertrennlich. Nicht einmal ihre Mutter Amalia kam dagegen an, aber sie freute sich auch über die innige Beziehung ihres Mannes und ihrer Tochter. Mehr konnte sie sich kaum wünschen. Während Bruno und Carla durch den Wald liefen, betrachtete Carla die Schatten um sich herum und zeigte ihrem Vater diejenigen, in denen sie lustige Formen oder sogar Tiere erkannte. Bruno musste angesichts ihrer blühenden Fantasie lächeln und war erstaunt über die vielen Kreaturen, die seine Tochter in den Schatten zu sehen glaubte. Sie kamen nach wenigen Minuten an dem Fluss an, der Encanto vom Rest Kolumbiens trennte und den sich keiner zu überqueren getraut hatte, bis Carla eines Tages verschwunden war. Nun waren sie wieder hier und Carla sah ihren Vater verwirrt an.
"Wieso sind wir hier, Papá? Diesen Ort kenne ich doch!", fragte sie verwirrt nach, während Bruno sich mit ihr an das seichte Ufer setzte.
"Ja, ich weiß, aber wusstest du auch, dass der Fluss magische Kräfte birgt?", erwiderte er und nahm seine Tochter auf seinen Schoß. Carla sah ihn mit großen Augen an.
"Wirklich?", fragte sie ungläubig an, während ihre Augen zu strahlen begannen. Bruno lächelte.
"Ja, so erzählt man es sich zumindest", antwortete er. "Dein Abuelo Pedro ist hier für uns gestorben und ich glaube, dass er hier ist und unsere Wünsche erhört. Wenn du ein Problem hast, dann komm hierher und rede mit dem Fluss. Er wird dir helfen und sicher fühlen lassen."
"Hast du das auch schon gemacht, Papá?", fragte Carla neugierig nach, während sie ihre kleinen Hände nach dem rosa schimmernden Wasser ausstreckte und es durch ihre Finger rinnen ließ.
"Ja, das habe ich. Unzählige Male sogar! Und jedes Mal habe ich mich danach besser gefühlt. Fast so, als hätte mein Vater mich in den Arm genommen und mir gesagt, dass alles gut werden wird", antwortete er ihr, worauf Carla sich fest an seine Brust drückte.
"Aber ich habe dich doch! Und du nimmst mich doch immer in den Arm!", wandte sie ein.
"Trotzdem. Es wird eine Zeit kommen, in der Mamá und ich nicht deine ersten Ansprechpartner sein werden, weil es Sachen gibt, die man seinen Eltern einfach nicht gerne sagt. Sollte diese Zeit kommen, möchte ich dich bitten, hierher zu kommen und es Abuelo zu sagen. Mamá und ich sind dir deswegen nicht böse, versprochen", erklärte er, Carla blinzelte verwirrt.
"Aber wieso sollte ich nicht mit euch reden wollen?", fragte sie weiter verwirrt und neugierig nach.
"Tja, weißt du, irgendwann wirst du dich wahrscheinlich verlieben und da kann es vorkommen, dass du uns nicht gleich davon erzählen möchtest. Sollte das passieren, dann sag es Abuelo, ja? Aber du kannst natürlich jederzeit zu uns kommen, wir sind immer für dich da, Carlita", antwortete er und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Carla umarmte ihren Vater und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
"Und ich für euch, Papá! Ich hab euch lieb!"
"Wir dich auch, mi vida querida."

Madrigal Kindergeschichten mit meinen CharakterenWhere stories live. Discover now