Ey, was habt ihr gedacht?

430 16 4
                                    

Wo fang ich an? Wo hör ich auf?

Wie konnte es so weit kommen? Für diese Frage war es eigentlich zu spät. Wieder ein Tag voller Büroarbeit. Nichtmal ansatzweise alle Autogrammkarten hatte sie heute geschafft zu unterschreiben, aber die Tatsache, dass sie die letzten Wochen völlig ausgelaugt und müde war, machte mehr momentan unmöglich.

Der Tag zu bunt, die Nacht zu laut
Drei Jahre an, drei Jahre Rausch

Lena lief unruhig in der Wohnung umher. Mark war noch unterwegs. In einer dieser Talkshows, die so gerne auch sie als Gast gehabt hätten. Eigentlich war längst Schlafenszeit und trotzdem oder gerade deswegen, wurde sie immer rastloser. Die Zeit zum Nachdenken kurz vor dem Schlafen tat ihr absolut nicht gut.

Jetzt sitz ich da, geh nicht mehr raus

Die beginnende Pandemie hatte in den letzten Monaten ohnehin alles verändert, aber Lena hatte ohnehin wenig Lust gehabt, nach draußen zu gehen. Nie schlechte Laune haben zu dürfen, war mehr als nur anstrengend.

Sprich mich an, fass mich an, mach mit mir, was du willst

Erst gestern hatte sie beim Einkaufen eine Frau mit ihrer kleinen Tochter getroffen. Natürlich wollte Lena dieses kleine Mädchen nicht enttäuschen, aber seit sie wusste, dass da in ihrem Bauch ein kleiner Mensch wuchs, war sie doch etwas empfindlich gegenüber Berührungen geworden. Auch jene Mutter hätte am liebsten zig Fotos von Lena mit ihrer Tochter gemacht und hatte das Kind in die verschiedensten Posen dirigiert.

Ich steh da, werde kalt, ich kann nur noch zusehen
Ey, was habt ihr gedacht? Das hier nichts mit mir macht?

Eine traurige Entwicklung, dass es schon lange so war, dass Lena solche Situationen einfach über sich ergehen ließ. Die Frau und auch das Mädchen hatten sich mehrfach bedankt und trotzdem fühlte sich Lena ein bisschen wie ein Tier im Zoo, das man beobachten, streicheln und fotografieren kann.

Denkt ihr, mich lässt es kalt, käm einfach so damit klar?

Ob die Leute dies auch so sahen oder nicht, konnte sie nicht sagen. Allerdings schien das wenig relevant zu sein, weil es ohnehin nichts ändern würde. Einerseits sind alle unglaublich mitfühlend, bei Liedern voller Gefühle kommen ihnen die Tränen, aber die Schattenseiten des Ganzen möchte niemand sehen.

Und ja, ich lieb, was ich mach, doch mich hat niemand gefragt
Sondern sich einfach genommen, so viel es noch von mir gab

Wenn auch nur ein einziges Mal ein Hauch von schlechter Laune zum Vorschein kam, wurde sie sofort verurteilt. Man habe sich schließlich dafür entschieden und alle anderen machten ja auch ihren Job. Darf man deshalb nicht mehr ehrlich sein? Muss man deshalb immer glücklich sein? Wo bleibt da die Realität?

Der Preis für den Applaus, diese Scheißangst

Diese scheinbar bedingungslose Liebe, die ihr täglich in den sozialen Medien entgegen schlägt, konnte Lena schon lange nicht mehr aufheitern. Nichts in dieser Branche war bedingungslos. Solange man liefert, geht es weiter. Aber was, wenn man irgendwann nicht mehr mitkommt? Was, wenn man egal wird?
All das Feedback und der Trubel erhöhten den Druck auf Lena ungemein.

Und das Beste ist
Wenn Leute zu mir sagen, ich veränder mich
Ihr wart niemals in meinem Leben, nein, ihr kennt mich nicht

Veränderung bedeutet Entwicklung. Natürlich hatte sie sich im letzten Jahrzehnt verändert, war unter den strengen Augen der Öffentlichkeit erwachsen geworden. Ihre Unbefangenheit habe sie verloren, arrogant und abgehoben sei sie.
Genau aus diesem Grund war es ihr so wichtig dieses private Geheimnis zu hüten wie einen Schatz. Es wird ohnehin alles von allen bewertet und am besten wissen es ohnehin immer die, die nicht dabei waren.
Ja, sie würde sich in den nächsten Monaten verändern, ihre Prioritäten würden sich ändern, aber sie hatte es sich genauso immer gewünscht.
Eine eigene kleine Familie zu haben.

Und sie sagen: "Ja, du hast es so gewollt
Also hör auf so zu reden, du hast Geld und den Erfolg"

Sie wollte nie berühmt werden, nie. Das tun was liebt, war ihr Ziel. Seit Jahren. Was ist schon Geld, wenn man täglich Dinge tut, die einem keinen Spaß machen?
Die Schattenseiten ihres Jobs gehören natürlich genauso dazu, wie die vielen positiven Seiten, die sie so sehr liebte. Trotzdem werden sich die Zeiten ändern.

Schon allein, weil man aus Platin, Gold oder einer Anzahl von Followern keine Liebe, keine Geborgenheit und schon gar keine Familie machen kann.

(Songtext: Was habt ihr gedacht - Wincent Weiss)

Lena One ShotsWhere stories live. Discover now